Einen seiner größten Erfolge hatte der nun im Alter von 77 Jahren verstorbene Filmregisseur Bernardo Bertolucci 1972 mit „Der letzte Tango in Paris“. Anlässlich seines 70. Geburtstags hatten wir uns das einstige Skandalwerk noch einmal angeschaut.

Stuttgart - Im Alter von 77 Jahren ist an diesem Monat, dem 26. November 2018, der italienische Filmregisseur Bernardo Bertolucci gestorben. Anlässlich seines siebzigsten Geburtstags am 16. März 2011 hatten wir uns „Der letzte Tango in Paris“ noch einmal angesehen, einen seiner berühmtesten und umstrittensten Filme. Im folgenden lesen Sie, was uns damals auf- und einfiel:

 

Bevor wir es wieder vergessen: in diesem Film wird auch gesprochen. Arg bedeutsam geht es dabei zu. „Wir werden alles verändern“ verspricht der von Jean-Pierre Léaud gespielte Regisseur eines Films im Film. Er trägt das in diversen Variationen vor, auch in dieser: „Wir müssen gleich etwas Neues anfangen.“ 1972 kam „Der letzte Tango in Paris“ ins Kino, in einer Zeit der Veränderungen, des Zeichen- und Wertewechsels. Und der italienische Regisseur Bernardo Bertolucci, der zu Hause auf den Sieg der Kommunistischen Partei und die große Umgestaltung hoffte, wollte den Bürgerlichen der westlichen Welt vor Augen halten, dass ihre Tage gezählt, ihre Selbsttäuschungen und Ordnungsprinzipien am Ende waren.

Schlüpfrigkeiten im Stellungskrieg

Wie kommt man an die guten Bürger heran? Bertolucci, der heute siebzig Jahre alt wird, hatte schon einige von der Kritik innig debattierte Filme wie „Strategie der Spinne“ und „Der große Irrtum“ abgeliefert, als er sich vornahm, über die Kreise der Intellektuellen hinaus zu wirken. Man kommt an die Bürger heran, kalkulierte er ganz richtig, indem man ihnen liefert, was sie offiziell gar nicht sehen wollen, Sex nämlich. Wenn sich der Kitzel des Perversen mit dem Einschüchternden der politischen Untergangsdrohung verbindet, darf der Bürger endlich etwas Verbotenes ganz offiziell anschauen und sich obendrein dafür loben lassen, dass er sich einer Herausforderung stelle.

Der in der Gegend von Parma aufgewachsene Sohn eines Schriftstellers hat damals richtig kalkuliert. „Der letzte Tango in Paris“ wurde ein internationaler Kassenschlager, ein Skandalstreifen, ein Geifertreiber für die Boulevardpresse, die begeistert Schlüpfrigkeiten ausbreiten konnte, und ein Gedankensprungbrett für die ernsthafte Kritik, die das ruppige Gevögele als Stellungskrieg der gesellschaftlichen Widersprüche aufschlüsselte.

Wie ein Fundstück Aas

Deshalb muss man dazu sagen, dass in „Der letzte Tango in Paris“ auch gesprochen wird. Denn vor allem eine Episode, der Filmbeginn, ist ins kollektive Gedächtnis eingegangen. Marlon Brando, damals 48, und Maria Schneider, damals 19, spielen zwei dem Zuschauer nicht näher vorgestellte Figuren, die beim Besichtigungstermin einer freien Wohnung aufeinandertreffen und unvermittelt unzärtlichen Sex miteinander haben.

Zwei Wildfremde treiben es miteinander, spontan, fast in der Öffentlichkeit, ohne ritualisiertes Geplänkel, ohne Gefühlsgeheuchel, ohne schlechtes Gewissen. Bertolucci wollte so das bürgerliche Liebesideal dekonstruieren, von einer Attacke auf die Konventionen erzählen, die im Fleisch des jeweils anderen greifbar werden sollten. Brandos und Schneiders Figuren pflegen eine Beziehung, die programmatisch das Kuschelige, Rückversichernde, Nestbauende vermeidet. Vor allem der Mann wird die Frau behandeln wie ein Hund ein Fundstück Aas im Wald, von dem er nicht sicher ist, ob es besser als Snack oder besser als Spielzeug taugt.

Lieblose Sexbesessene

Aber das Massenpublikum dürfte damals etwas anderes in dem Film gesehen haben: ein Versprechen der großen Libertinage, ein Mundwässrigmachen auf Sex, der künftig hinter jeder Ecke lauern konnte. Warum sollten nur die Hippies ihren Spaß haben? Brando spielte als amerikanischer Hotelbesitzer in Paris das Bürgertum, das sich die Konventionen abgeschält hatte wie einen kratzig gewordenen Pullover.

Heute hat das alles keine Skandalqualitäten mehr. Es sei denn in Gegenden mit hoher Wohnungsnot, wo man sich darüber ärgern könnte, dass die beiden Protagonisten in einem leeren Apartment an Sex statt an eine Vertragsunterzeichnung denken. „Der letzte Tango in Paris“ ist ein schwerfällig verkünsteltes Schaustück, eine Zurschaustellung revolutionärer Überheblichkeit. „So kaputt seid ihr schon“, flüstert Bertolucci dem Publikum zu und kann sich doch nicht entscheiden, ob er diese lieblosen Sexbesessenen, die sich zu immer neuen Schwitz- und Keuchsitzungen treffen, nicht doch als Engel zeigen soll, die den Bürger aus seinem Gefängnis der Verlogenheit in den Himmel des ewigen Umsturzes führen könnten.

Verschiedene Ebenen von Brando

Der Kameramann Vittorio Storaro, der später auch Bertoluccis „Der letzte Kaiser“ fotografiert hat, übersetzt das Regiekonzept, uns keinen Halt finden zu lassen, eigentlich sehr brillant in Bilder der Nähe und Ungewissheit. Weder die Fotografie noch das Drehbuch gestatten uns psychologische Deutungen. Aber je offener die Figur von Brando bleibt, desto eher wird sie eben zu Marlon Brando.

Das hat zunächst gut funktioniert. In den damals aktuellen Brando drängten sich die Bilder eines jüngeren Brando, eines spektakulären Beispiels männlichen Sexappeals, das von Bertolucci in den Zustand innerer Verwahrlosung weitergedacht wurde. Aber für uns heutige stürzen ins Vakuum dieser Tango-Figur die Bilder des späteren Brando. Wir sehen ihn als Don Vito Corleone in Francis Ford Coppolas „Der Pate“, als Colonel Kurtz in Coppolas „Apocalypse now“ und vor allem als den wassertankdicken, krustig verschmollten, verblasene Meinungen dahernuschelnden Brando der letzten Lebensjahre. Wenn diese Bilder ins Neuschauen des Klassikers einsickern, dann ist „Der letzte Tango in Paris“ nur noch zum Lachen.

Der letzte Tango in Paris. MGM DVD. 124 Minuten Film. Keine Extras. Etwa 10 Euro.