Auf dem Oktoberfest kann einem nach einer himmlischen Erscheinung plötzlich Patrick Lindner begegnen. Der StZ-Redakteur Erik Raidt, geboren in Bad Cannstatt, hat sich auf der Wiesn umgesehen.

München - Die erste Erschütterung kommt weit vor München, präziser gesagt: bei der Abfahrt in Stuttgart. Dort bricht am Hauptbahnhof eine dreiköpfige Fahrgemeinschaft gen Osten auf, die sich in einer gewagten Kombination aus Bayerntrikot plus Trachtenmode zeigt. Und andersherum? Eine Gruppe Wasenfans am Münchner Bahnhof im VfB-Trikot? Im Leben nicht. Stuttgart gleicht einer Baustelle: Am Bahnhof buddelt man in die Tiefe, gräbt aber römische Öfen aus, zwei Shopping-Ungetüme eröffnen in der City, der VfB säuft ab, überall Schlamassel. Die Gesamtgemütlichkeit: nahe bei Null Promille.

 

Wenn ein Schwabe nach München fährt, dann um zu verlieren. Es steckt tief in einem drin, dieses Nummer-zwei-Sein im Süden, dieser gebückte Gang. Und man bekommt es im ICE sofort wieder Schwarz auf Weiß serviert: In der Zeitschrift der Bahn findet sich eine Geschichte über herbstliche Volksfeste. An Position eins wird die Wiesn als „legendär“ geadelt, es folgt der Cannstatter Wasen, über den das Blatt allerdings schreibt: „Nachts erinnern die vielen bonbonbunten Lichter der Fahrgeschäfte fast an das Glitzern von Las Vegas.“ Schau an, das hat man selbst noch nie so gesehen – der Wasen als funkelnde Sin City. Manchmal hilft der Blick aus der Distanz, um die wahre Schönheit zu erkennen.

„Original bavarian stuff“ am Hauptbahnhof

Deshalb die Dienstfahrt nach München. Heidenrespekt vor der Wiesn, weil keine Ahnung, quasi schimmerlos. Aber mit der Erwartung im Gepäck, dass Las Vegas im Vergleich zum Oktoberfest ein Mückenschiss ist. Zweieinhalb Stunden später spuckt einen der ICE in München wieder aus. Wer willens ist, kann sich am Bahnhof in Minutenschnelle in einen Oktoberfestbayern verwandeln, den man nur mit geübtem Auge vom Original unterscheiden kann. Das wollen erstaunlich viele. In der Schalterhalle bildet sich um zwei Holzbuden ein Belagerungsring aus jüngeren Leuten. Auf der Rückwand der Buden steht „Original bavarian stuff“, das nehmen die Rucksackreisenden aus Australien wörtlich. Zwischen Bretterbude und Fahrkartenautomat ziehen sie sich um, schon hat sich der „Aussie“ im Trachtendiscounter für 39,95 Euro in einen Bayern verwandelt. Er grinst: „My first time in Lederhosn!“

Noch vor der ersten Maß beschleicht einen das Gefühl, eine Parallelwelt zu betreten. Entrückt geht es weiter, das Hotel liegt malerisch an einer Ausfallstraße, hat offiziell drei Sterne, vom Komfort her eher zwei, vom Preis her eher fünf. „Ja mei, die Wiesn“, sagt der Münchner Kollege, und klar, wer als Besucher geizt, der offenbart sich in der Weltstadt mit Herz als absolutes Landei. Als Schwabenschotte, als Witzfigur. Die Wiesn ist ein Ort der barocken Freude und des geöffneten Portemonnaies. Also, auf geht’s! Startschuss auf der Wirtsbudenstraße.