Die Online-Enzyklopädie Wikipedia will freies Wissen für alle ermöglichen. Der Stuttgarter Wikipedia-Autor Rudolf Simon bearbeitet Artikel seit 13 Jahren. Er sagt: „Es gibt keine Geheimnisse bei Wikipedia.“

Digital Desk: Sebastian Xanke (xan)

Stuttgart - Rudolf Simon aus Stuttgart ist Autor. Nicht etwa von einem Buch, sondern von zahlreichen Wikipedia-Artikeln im Netz. Der 70-Jährige hat in einem Zeitraum von etwa 13 Jahren rund 15.500 Texte in der Online-Enzyklopädie bearbeitet. Das sind rund drei Bearbeitungen an einem Tag. Was als Bearbeitung gilt, ist zwar recht weit ausgelegt – so kann sie das Schreiben ganzer Passagen oder das Korrigieren eines Grammatikfehlers beinhalten – dennoch ist es eine Zahl, die Eindruck macht.

 

„Wissensmanagement (vorhandenes Wissen nutzbar zu machen; Anm. d. Red.) hat mich schon immer interessiert. Beruflich wie in meiner Freizeit“, erklärt Simon den Grund für sein Engagement. Seine Motivation: „Wissen sollte der Allgemeinheit zur Verfügung stehen.“ Früher habe er sich gerne mithilfe von Lexika informiert. „Aber wir wollen Wissen nicht kommerziell verbreiten.“

Wer ist „Wir“?

„Wir“, das ist eben nicht nur Simon, sondern ein ganzes Netzwerk an Autoren auf der ganzen Welt. Zur Stuttgarter Wikipedia-Gemeinschaft gehören laut dem 70-Jährigen etwa zehn Menschen. „Das ist so der harte Kern.“ Die ehrenamtliche Gruppe würde sich einmal im Monat in der Stadtbibliothek treffen, um Diskussionen zu führen und, neue Schreiber für ihre Sache zu gewinnen. Zusätzlich gebe es immer wieder größere Veranstaltungen, wie die WikiCon in Kornwestheim, bei der regelmäßig weit mehr als 200 Autoren aufeinandertreffen.

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Der Altersdurchschnitt: viele junge, wenig mittelalte und wiederum viele Menschen ab 50 Jahren, sagt Simon. „Das sind eben Gruppen, die oft etwas mehr Zeit haben. Im Gegensatz zu Berufstätigen.“ Mit seinem Hintergrund als Maschinenbauingenieur gehöre er dabei zu einer Minderheit. „Viele Autoren sind natürlich Sprachler, Lehrer und Kulturinteressierte“, sagt der 70-Jährige. Zu Beginn seiner Wikipedia-Laufbahn habe er sich deswegen vorgenommen, einiges im – seiner Meinung nach – unterrepräsentierten Bereich der Technikartikel beizutragen. „Im Endeffekt habe ich aber dann das Wenigste über Technik geschrieben.“

Das Problem der anonymen Nutzer

Statt über Technik schrieb Simon in der Vergangenheit viele Kurzbiografien. „Über Menschen, die mir begegnet sind oder für die ich mich interessiert habe.“ Wissenschaftliches Hintergrundwissen aus eigener Erfahrung hat er nicht immer gehabt. Aber, „die Grundregel auf Wikipedia ist, alles mit Quellen zu belegen [...] und keine Wertung und schon gar keine Werbung aufzuschreiben.“ Das klingt, als wäre die Online-Enzyklopädie quasi unfehlbar. Es soll immerhin alles lückenlos belegt werden.

Wäre da nicht ein Problem: Jeder hat die Möglichkeit, die absolute Mehrheit der Artikel zu bearbeiten – ob auf der Website angemeldet oder nicht. Für Simon ist das hingegen eine der wichtigsten Errungenschaften Wikipedias. Der 70-Jährige wirft zwar ein, dass die IP-Adresse eines jeden Editors von der Website gespeichert wird. Und mit der IP-Adresse lässt sich in der Regel auch der Bearbeiter bis vor den benutzten Rechner zurückverfolgen. Wer es darauf anlegt, hat allerdings ohne Probleme die Möglichkeit, die eigene IP-Adresse zu verschleiern und sich somit komplett anonym durch das Netz zu bewegen.

Über den Umgang mit Falschinformationen

Wenn es einen Fall gibt, in dem eine neue Bearbeitung nicht ausreichend belegt wurde oder „offensichtlich Unsinn“ ist, werden die Informationen auf der Seite mitunter von Wikipedia-Autoren „meistens sofort zurückgesetzt“, erklärt Simon. Dass das in der Praxis auch in vielen Fällen schnell zu funktionieren scheint, allerdings anderweitig Konsequenzen haben kann, zeigt ein Fall vor einigen Monaten. Damals wurde der VfB-Vorstandsvorsitzende Thomas Hitzlsperger Opfer homophober Anfeindungen in seinem Wikipedia-Artikel (wir berichteten).

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Zusätzlich würde Software von Wikipedia automatisiert bestimmte Begriffe wie Beleidigungen oder Sexismusäußerungen von der Seite verbannen und gegen Fake News vorgehen, sagt Simon. „Alle Bearbeitungen sind außerdem öffentlich. Es gibt keine Geheimnisse bei Wikipedia.“ Der 70-Jährige spielt damit auf die Autorenliste eines jeden Artikels an. Neben der Möglichkeit, Texte ohne vorangegangene Registrierung bei Wikipedia zu bearbeiten, können sich Editoren mit einem Konto bei der Website anmelden. Doch auch an dieser Stelle herrscht keine völlige Transparenz.

Morddrohung wegen mutmaßlichen Falschinformationen

Die Schwierigkeit zeigt sich exemplarisch an einem maßgeblich von Simon erstellten Artikel über den Volkswagen-Vorstandsvorsitzenden Herbert Diess. Dort ist Rudolf Simon zwar mit 34 Prozent als absoluter Top-Bearbeiter des Textes angezeigt, mit 15,8 Prozent Beteiligung steht unter ihm jedoch der Nutzer „Docmo“. Darunter finden sich viele weitere Pseudonyme, die keinerlei Auskunft über die Personen hinter den Bearbeitungen geben. Vollständige Transparenz sieht anders aus.

Simon verteidigt die Pseudonyme: Sie seien sogar wichtig, um Menschen zum Schreiben zu bewegen, „zum Beispiel bei heikleren Themen, wie Islamismus.“ Er selbst würde seinen Klarnamen heute auch nicht mehr angeben. „Erst kürzlich bin ich auf Twitter bedroht worden.“ Die mutmaßliche Unterstellung des Nutzers: Simon habe falsche Fakten verbreitet. „Da habe ich dann auch eine Morddrohung erhalten.“

Im entsprechenden Artikel jedoch über die sich wiederholenden DNA-Abschnitte CRISPR habe er lediglich Änderungen an der Interpunktion vorgenommen. „Ansonsten war ich in dem Thema zu wenig ein Fachmann.“ Der Fall sei in der Folge von Wikipedia an die Polizei weitergeleitet worden. „Wir nehmen solche Dinge sehr ernst“, sagt Simon. Wenn er sich recht entsinne, sei der Nutzer für die Drohung auch belangt worden.