Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Wikipedia ist das einzige Informationsangebot unter den 30 meistbesuchten Websites, das keine kommerziellen Interessen verfolgt. Die deutschsprachige Ausgabe, eine von annähernd 300, umfasst momentan fast zwei Millionen Einträge. Wikipedia ist der Brockhaus der Postmoderne und laut aktuellen Untersuchungen auch ähnlich verlässlich wie die gedruckten Lexika aus vergangenen Zeiten. Wie kann die erreichte Qualität gesichert werden?

 

Der Korntaler Rudolf Simon, 66, gehört zu den wenigen Wikipedianern, die sich im World Wide Web mit ihrem vollständigen bürgerlichen Namen zu erkennen geben. Der promovierte Ingenieur ist ein sogenannter Sichter, er achtet darauf, dass in den Artikeln kein Blödsinn verzapft wird – und zwar, wie er sagt, „mit typisch deutscher Gründlichkeit“. Simon glaubt an die Weisheit der Masse, auch Schwarmintelligenz oder Crowdsourcing genannt. In einem riesigen Kollektiv, in dem sich jeder freiwillig unter Beobachtung der anderen begibt, würden Fehler und Manipulationen entdeckt – zwar nicht immer sofort, doch sicherlich irgendwann. „Natürlich gibt es in jeder Gemeinschaft auch Störenfriede“, sagt Simon. „Aber die Mehrheit der Menschen ist geneigt, etwas Ordentliches, Produktives zu machen.“

Wikipedia fordert einen „neutralen Standpunkt“

Eine der größten Gefahren besteht darin, dass Wikipedia als Plattform für verdeckte PR von Politikern und Unternehmen missbraucht wird. Vor einigen Jahren wurden Änderungen in dem Artikel „Daimler AG“ vorgenommen, die die NS-Vergangenheit des Konzerns betrafen. Unter anderem verschwand die Information, dass während des Zweiten Weltkrieges in einem Werk „Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter für den damaligen nationalsozialistischen Musterbetrieb“ arbeiteten. Wer einen Wikipedia-Artikel bearbeiten will, kann sich als Benutzer mit seinem echten oder einem ausgedachten Namen registrieren – er muss es aber nicht. Allerdings lässt sich auch bei anonymen Änderungen anhand der IP-Adressen zurückverfolgen, über welchen Server die Nutzer online waren. Im beschriebenen Fall war es ein Computer der Daimler AG.

Wikipedia fordert von seinen Autoren einen „neutralen Standpunkt“. Doch ist Ideologiefreiheit nicht eine Illusion, solange Menschen beteiligt sind? Bei kontroversen Themen kommt es häufig zu sogenannten „edit wars“: Ein Autor schreibt etwas, ein anderer löscht oder überschreibt es. Einer meint, dass die AfD „rechtspopulistisch“ sei, der andere hält die Partei für „nationalkonservativ“. So kann es tagelang hin- und hergehen. Bevor die Angelegenheit vollends eskaliert, greift ein Administrator durch – eine Art Sheriff, der von der Wikipedia-Gemeinde gewählt wurde. Er sperrt den Artikel für die weitere Bearbeitung.