Am Wochenende tagen die Autoren der weltgrößten Enzyklopädie in Kornwestheim. Was treibt die Menschen an, die ehrenamtlich für Wikipedia arbeiten?

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Kornwestheim - Einmal im Monat treffen sich im Untergeschoss der Stuttgarter Stadtbibliothek ein Dutzend Männer, um ihr Wissen mit der Menschheit zu teilen. Wer den fensterlosen Raum betritt, und sei es zum ersten Mal, wird augenblicklich Teil dieser Gemeinschaft. Jeder duzt jeden. An diesem Abend leitet Giftzwerg88 den Editierworkshop. Außerhalb des Wikipedia-Universums hört Giftzwerg88 auf den Vornamen Friedhelm und arbeitet als Lagerist. Dieser Job, sagt er, „lässt geistige Kapazitäten frei“. Giftzwerg88 füllt das Vakuum, indem er „Artikel zu abseitigen Themen“ verfasst. Neben ihm sitzt Winfried, der bis vor einigen Monaten als Zeitungsredakteur tätig war und sich nun nach neuen Schreibaufgaben sehnt. Er will mithelfen, die größte Enzyklopädie aller Zeiten noch größer zu machen.

 

Wikipedia plagen Nachwuchssorgen. In Deutschland sinkt die Zahl der regelmäßig tätigen Autoren seit acht Jahren kontinuierlich. Wenn am kommenden Wochenende im Kornwestheimer Kultur- und Kongresszentrum die WikiCon stattfindet, wird sich ein Programmschwerpunkt mit der Frage beschäftigen, wie dieser Trend umgekehrt werden kann. „Wikipedia wird weiblich“ lautet beispielsweise der Titel eines Vortrags, der das Ziel beschreibt, mehr Frauen für die männerdominierte Online-Bildungskollaboration zu gewinnen. Und im Foyer werden Einführungskurse angeboten, die Hinz und Kunz besuchen können, ohne vorher für 20 Euro ein Eintrittsticket für den gesamten Kongress zu lösen. Diese Öffnung nach außen ist revolutionär, denn WikiCons waren bisher Treffen für Hardcore-Wikipedianer. Der typische Vertreter dieser Spezies legt keinen Wert auf schicke Kleidung, verbringt die meiste Lebenszeit am Laptop und meidet normalerweise Menschenansammlungen. Für jene, die starke autistische Züge aufweisen, wird es auf der Kornwestheimer WikiCon einen Rückzugsraum geben.

Winfried ist kein Nerd, sondern ein 62-jähriger Journalist aus dem Remstal, der soziale Kontakte und eine sinnvolle Beschäftigung sucht. Am liebsten würde er gleich loslegen und eine Abhandlung über seinen Opa väterlicherseits veröffentlichen: „Aber wie bekomme ich mein Word-Dokument in die Wikipedia?“ Ganz einfach, antwortet Giftzwerg88: neuen Artikel anlegen, copy and paste, dann Überschriften, Einzelnachweise, Querverweise und Kategorien hinzufügen. Klick, klick, klick – fertig. Alles klar? Winfried schüttelt den Kopf. Er wird wohl noch mehrere Workshops besuchen müssen, um die sperrige Wikipedia-Textverarbeitung zu durchschauen.

Erst wird veröffentlicht, dann geprüft

Wenn Winfried die Technik im Griff hat, kann er sich den Inhalten zuwenden. Auch hierbei wird der ehemalige Zeitungsredakteur umdenken müssen, denn Wikipedia funktioniert nach einem Prinzip, das den klassischen Journalismus auf den Kopf stellt: Erst wird veröffentlicht und dann geprüft. Kaum ist ein Beitrag online, stürzt sich ein Heer von pedantischen Besserwissern auf ihn – korrigiert, ergänzt und streicht. Sämtliche Wertungen fliegen raus, nicht belegte Behauptungen auch. Pro Minute gibt es in der deutschsprachigen Wikipedia durchschnittlich 30 Änderungen. Es kann sein, dass der Ursprungsautor nach wenigen Stunden seinen Text kaum noch wiedererkennt. Anschließend drohen Löschdiskussionen: Muss der Artikel wieder von der Bildfläche verschwinden, weil er die strengen Relevanzkriterien nicht erfüllt?

Zum Beispiel Winfrieds Großvater, geboren 1877, gestorben 1940. Sein Opa, erzählt Winfried, sei in Mödritz ein berühmter Kinderarzt gewesen. „Lokale Berühmtheiten sind in der Regel irrelevant“, entgegnet Giftzwerg88 unbeeindruckt. „In jedem Dorf gibt es einen Bub mit roten Haaren und schiefen Zähnen, den alle kennen.“ Es brauche schon „mehrere objektive Hinweise“, damit eine Person oder ein Gegenstand wichtig genug für ein Online-Medium sei, das allein in Deutschland täglich vier Millionen Menschen nutzen.

Der Brockhaus der Postmoderne

Wikipedia ist das einzige Informationsangebot unter den 30 meistbesuchten Websites, das keine kommerziellen Interessen verfolgt. Die deutschsprachige Ausgabe, eine von annähernd 300, umfasst momentan fast zwei Millionen Einträge. Wikipedia ist der Brockhaus der Postmoderne und laut aktuellen Untersuchungen auch ähnlich verlässlich wie die gedruckten Lexika aus vergangenen Zeiten. Wie kann die erreichte Qualität gesichert werden?

Der Korntaler Rudolf Simon, 66, gehört zu den wenigen Wikipedianern, die sich im World Wide Web mit ihrem vollständigen bürgerlichen Namen zu erkennen geben. Der promovierte Ingenieur ist ein sogenannter Sichter, er achtet darauf, dass in den Artikeln kein Blödsinn verzapft wird – und zwar, wie er sagt, „mit typisch deutscher Gründlichkeit“. Simon glaubt an die Weisheit der Masse, auch Schwarmintelligenz oder Crowdsourcing genannt. In einem riesigen Kollektiv, in dem sich jeder freiwillig unter Beobachtung der anderen begibt, würden Fehler und Manipulationen entdeckt – zwar nicht immer sofort, doch sicherlich irgendwann. „Natürlich gibt es in jeder Gemeinschaft auch Störenfriede“, sagt Simon. „Aber die Mehrheit der Menschen ist geneigt, etwas Ordentliches, Produktives zu machen.“

Wikipedia fordert einen „neutralen Standpunkt“

Eine der größten Gefahren besteht darin, dass Wikipedia als Plattform für verdeckte PR von Politikern und Unternehmen missbraucht wird. Vor einigen Jahren wurden Änderungen in dem Artikel „Daimler AG“ vorgenommen, die die NS-Vergangenheit des Konzerns betrafen. Unter anderem verschwand die Information, dass während des Zweiten Weltkrieges in einem Werk „Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter für den damaligen nationalsozialistischen Musterbetrieb“ arbeiteten. Wer einen Wikipedia-Artikel bearbeiten will, kann sich als Benutzer mit seinem echten oder einem ausgedachten Namen registrieren – er muss es aber nicht. Allerdings lässt sich auch bei anonymen Änderungen anhand der IP-Adressen zurückverfolgen, über welchen Server die Nutzer online waren. Im beschriebenen Fall war es ein Computer der Daimler AG.

Wikipedia fordert von seinen Autoren einen „neutralen Standpunkt“. Doch ist Ideologiefreiheit nicht eine Illusion, solange Menschen beteiligt sind? Bei kontroversen Themen kommt es häufig zu sogenannten „edit wars“: Ein Autor schreibt etwas, ein anderer löscht oder überschreibt es. Einer meint, dass die AfD „rechtspopulistisch“ sei, der andere hält die Partei für „nationalkonservativ“. So kann es tagelang hin- und hergehen. Bevor die Angelegenheit vollends eskaliert, greift ein Administrator durch – eine Art Sheriff, der von der Wikipedia-Gemeinde gewählt wurde. Er sperrt den Artikel für die weitere Bearbeitung.

Auf Dauer nicht lebensfähig?

Wie löst man solche Konflikte ohne Sanktionen? „Auch kontroverse Diskussionen können sachlich anhand der Faktenlage dargestellt werden“, sagt Mussklprozz, 63, selbstständiger Informatiker aus Freiberg am Neckar. Seit zwölf Jahren engagiert sich Mussklprozz für die Wikipedia, in dieser Zeit ist er zur personifizierten Neutralität gereift. Als der Artikel über Nicole Razavi durch den Hinweis ergänzt worden war, die CDU-Landtagsabgeordnete profitiere durch eine Nebentätigkeit von dem Milliardenprojekt Stuttgart 21, löschte Mussklprozz diesen Eintrag mit der Begründung: Die angegebene Quelle, die linksalternative Internetzeitung „Kontext“, sei „nicht neutral, weil sie zu Stuttgart 21 nur kritische Nachrichten veröffentlicht“. Der Vorwurf der Zensur prallt an Mussklprozz ab: Er hat ein starkes Kreuz – und ist selbst ein entschiedener Gegner des Tiefbahnhofs.

Anfang dieses Jahres, als Wikipedia seinen 15. Geburtstag feierte, unkte die „Süddeutsche Zeitung“, das Online-Lexikon sei „auf Dauer nicht lebensfähig“, und die „Frankfurter Allgemeine“ stellte ernüchtert fest: „Das Interesse, das eigene Wissen an eine grenzenlose Internetgemeinde weiterzugeben, scheint zu schwinden.“ Selbst der Soziologe Kurt Jansson, der Wikipedia von Beginn an aktiv unterstützt und heute beim „Spiegel“ angestellt ist, schrieb besorgt: „Der harte Kern der Community umfasst derzeit etwa tausend Autoren – nicht viel, wenn man sich den stetig wachsenden Artikelbestand vor Augen führt.“

Wikipedia braucht dringend Menschen wie Winfried. Menschen, die gründlich recherchieren, verständlich schreiben und routiniert redigieren. Menschen, die ihre freie Zeit dazu nutzen wollen, der Gesellschaft Wissen zu spenden. Vielleicht kann die Wikipedia-Gemeinde Winfried für seine Bemühungen danken: mit einem Artikel über seinen Großvater, dem berühmten Kinderarzt aus Mödritz.