Ein Fotoband versammelt alte Tatortbilder der New Yorker Polizei. Anders als damals erzählen die Bilder nun nicht nur vom Tod, sondern auch vom Leben der armen Leute.

Stuttgart - Man sieht es einem Ort nicht an, ob er ein Tatort sein könnte oder schon einmal war, heißt es. Stimmt ja auch: Verbrechen sind überall vorstellbar. Aber es gibt Orte, die kann man sich, wenn man bestimmte Bilder von ihnen gesehene hat, gar nicht mehr anders denn als Schauplatz des Verbrechens vorstellen. Eine Leiche liegt dann da wie ein Vogelei im Nest, als erfülle der Tat- oder Auffindeort Ort nun seinen grimmigen vorbestimmten Zweck. Der Fotoband „Wenn es Nacht wird – Verbrechen in New York 1910-1920“, den Wilfried Kaute herausgegeben hat, präsentiert lauter solche Bilder und Orte.

 

Die Fotos zeigen das New York der Einwanderer und der Hängengebliebenen, der kleinen Leute, von denen manche vielleicht nicht einmal damals von den untersuchenden Beamten noch einen Namen zugeordnet bekamen. Es sind verwohnte, vernutzte, abgeschabte Buden, in denen die Leichen derer liegen, die auch einmal glaubten, diese Armut sei nicht für immer. Manchmal sind es auch dreckige Ecken von Slumstraßen, Industriegelände, innerstädtische Brachen, auf denen sie abgelegt oder hingestreckt wurden. Die Bilder sind von einer klaren Endgültigkeit. Sie lassen ahnen, dass hier einmal gehofft wurde, und glauben selbst kein bisschen, dass an dieser Hoffnung je etwas dran war.

Der Gottesblick der Polizei

Solche Bilder sind uns nicht neu, der Verbrechensreporter Weegee ist mit ihnen in die Fotografiegeschichte eingegangen, viele US-Zeitungen haben mittlerweile ihre Archive geöffnet. In „Wenn es Nacht wird“ aber finden wir nicht die Fotos der Reporter, die immer die erweiterte Schaulustigen- oder jedenfalls Passantenperspektive bieten. Es handelt sich hier um die Tatortfotos der Polizei.

Will heißen, die Fotografen hatten ganz anderen Zugang zum Objekt, andere Perspektiven waren ihnen erlaubt, sie wurden nicht weggescheucht. Immer wieder schaut die Kamera direkt von oben hinab auf die Leichen. Das ist ein seltsamer Gottesblick, man könnte auch meinen, jener Blick, von dem manche Leute früher glaubten, die Seele könne ihn noch einmal zurückwerfen auf den Körper, aus dem sie gerade herausgerissen wurde.

Die Frage nach Würde und Erinnerung

Ganz so einfach, wie der Einführungstext von Joe Bausch sich das macht mit dem Hinschauendürfen, mit dem Anspruch der Toten auf einen Rest Würde, ist es vielleicht nicht. Opfer und Täter seien ja schon lange tot, führt bausch als Argument auf. Aber diese lange verräumten Bilder, die nur zufällig bei Renovierungsarbeiten in der ehemaligen Polizeizentrale entdeckt worden waren, sind eben so intensiv, dass sie das Gezeigte wieder sehr gegenwärtig machen. Und theoretisch könnten noch Menschen leben, die hier Abgebildete als Teil ihrer Familie begreifen. So ganz abstrakt historisch ist das alles noch nicht. Die Bilder sind lebendiger als die alten Zeitungsberichte und Werbegrafiken, die man ihnen beigegeben hat.

Aber ein anderes Argument, auch wenn es als Helfer purer Schaulust dienen mag, keiner wird sich da seiner selbst ganz sicher sein, muss man auch wägen. Nicht nur diese Bilder, auch diese Menschen sollten vergessen werden. Über sie ging schon ihre Mitwelt hinweg. Ein paar Opfer mehr, was ist das schon? Ein nichtiger Teil der enormen Spanschauer aus jener riesigen Fräsmaschine, die unablässig am Mythos der großen Stadt arbeitet. Dieser Gleichgültigkeit stemmen sich diese Bilder nun entgegen.

Wilfried Kaute (Hg.): „Wenn es Nacht wird – Verbrechen in New York 1910-1920“. Emons Verlag, Köln. 240 Seiten. 39,95 Euro.