Vor 30 Jahren fiel die Mauer. Ein wichtiges Ereignis für Wilfried Linz. Der Friolzheimer kam nach einem Fluchtversuch 1967 aus der DDR ins Gefängnis.

Friolzheim - Dieses Urteil war im Nachhinein eine Zerstörung meiner selbst, von Körper und Seele.“ Wer Wilfried Linz reden hört, mag gar nicht glauben, dass es ein so dunkles Kapitel in seiner Vergangenheit gibt. Der 74-jährige Friolzheimer wirkt aufgeschlossen und positiv, lacht viel, spricht ganz offen über sich und sein Leben. „Ich habe danach versucht, alle negativen Erfahrungen zu löschen. Ich glaube, die hätten mich sonst daran gehindert, meine Zukunft hier zu beginnen und ein neues Leben anzufangen.“

 

Mit 22 Jahren wollte Wilfried Linz aus der DDR fliehen, wurde aber von der ungarischen Staatssicherheit festgesetzt und verhaftet. 20 Monate saß er daraufhin als politischer Gefangener im Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, bevor er im Jahr 1969, vor genau 50 Jahren, von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft wurde. 47 Jahre hat es gedauert, bis er den Mut fand, die Unterlagen der Stasi über sich einzusehen.

Wilfried Linz ist Tierarzt im Ruhestand und wohnte bis vor einigen Jahren in Rutesheim, 36 Jahre hat er dort verbracht. Heute lebt er mit seiner Frau in Friolzheim. Seine Wurzeln aber liegen weiter im Osten, in Thüringen. „Ich komme aus einem sehr romantischen Dorf gleich an der Grenze zu Hessen“, erzählt Wilfried Linz. Neuenhof heißt der Ort, bei Eisenach gelegen. „Da habe ich meine Kindheit verbracht.“

Grenzzäune, Minen, Selbstschussanlagen

Da alle seine Verwandten in Westdeutschland lebten, waren er und seine Eltern oft dort zu Besuch. Anfangs war das noch einigermaßen unkompliziert möglich, erinnert sich Linz. „Bis 1961 war die Grenze fließend, da waren nur ein paar Pflöcke im Boden.“ Die Grenzzäune, die Minen und Selbstschussanlagen, all das kam erst später. „Mit so etwas hätten wir nie gerechnet.“ Durch die vielen Besuche im Westen wusste die Familie, wie es dort aussah und wie sich alles entwickelte.

„Da hat man schon gemerkt, was für ein großer Schlund sich auftat gegenüber dem, was in der DDR an Parolen gebrüllt wurde“, erinnert er sich. „Vom ,Klassenkampf‘ und vom ,Klassenfeind‘ Westdeutschland, ,in dem die ganzen Nazis leben‘. Und: ,Die Partei hat immer recht‘.“ Von Beginn an konnte der junge Wilfried Linz mit diesem totalitären System nichts anfangen. Der Drang, der DDR den Rücken zu kehren und zu fliehen, kam ihm jedoch erst bei seiner Arbeit bei der Zeitung Volkswacht in Gera.

Wilfried Linz in jungen Jahren. Foto: Andreas Gorr

„Ich wollte Sportjournalist werden“, erzählt Wilfried Linz. So wie seine großen Vorbilder Heinz Florian Oertel und Herbert Zimmermann. „Und ich dachte bis zuletzt: Es muss doch auch hier noch einen Freiheitsgedanken geben.“ Doch seine Arbeit bei der Zeitung belehrte ihn eines anderen. „Uns wurde genau vorgegeben, worüber wir schreiben sollen und wie wir darüber schreiben sollen. Einmal die Woche gab es dafür eine Einweisung vom Politbüro, genannt: ,Interpretationsvorschlag‘. Und jede Woche wurde unser Klassenbewusstsein überprüft.“

Mit ihm waren noch ein paar weitere Volontäre bei der Volkswacht. In einem davon fand er einen Gleichgesinnten: „Uns war klar: Ein Leben in der DDR ist ein nicht gelebtes Leben.“ Sie beschlossen daher, gemeinsam zu fliehen. Unter dem Vorwand, eine Brieffreundin in Ungarn zu besuchen, machten sie sich im September 1967 auf zur jugoslawischen Grenze, um für immer aus der DDR zu entkommen. Doch ihr Vorhaben scheiterte. Noch vor der jugoslawischen Grenze wurden die jungen Männer von der ungarischen Staatssicherheit aufgegriffen und festgenommen. Von da an dauerte es 20 Monate, bis Wilfried Linz wieder einen Fuß auf freien Boden setzen konnte.

„Verlassen der DDR bedeutet einen Verrat an der Arbeiterklasse“

„Die ersten Wochen war ich im Staatsgefängnis in Budapest“, erzählt er. „Dort drohte man mir damit, dass man mich und meine Eltern umbringen würde, wenn ich nicht sofort auf die Knie falle und gestehe.“ Nach einem Scheinprozess in Gera wurde er zu zwei Jahren Haft verurteilt. „Das war eher ein Tribunal, das Urteil stand von Anfang an fest“, ist Linz überzeugt. „Der Versuch des Verlassens der DDR bedeutet einen Verrat an den Interessen der Arbeiterklasse, einen Verrat am sozialistischen deutschen Staat der Arbeiter und Bauern“, ist in der Urteilsbegründung von damals zu lesen. „Ihr Vaterland wollten die beiden Angeklagten verlassen, um sich in das Land zu begeben, in dem die Todfeinde der deutschen Arbeiterklasse die Macht ausüben.“ Wilfried Linz wurde ins Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen gebracht, wo die Tortur ihren Lauf nahm. Das einzige Ziel der Stasi bestand darin, den Willen und die Persönlichkeit der Gefangenen zu brechen, sagt Linz.

„Es ist im Nachhinein nicht so leicht, sich an Einzelheiten zu erinnern, wenn man über Jahre versucht hat, das zu verdrängen.“ Vieles jedoch kam zurück, nachdem er vor wenigen Jahren begann, sich tiefer mit der Materie auseinanderzusetzen: Mit 32 anderen Männern war Linz in einer „Stube“, so hieß es damals, untergebracht. Politische Gefangene zusammen mit Mördern und anderen Kriminellen. „Den Geruch kann man sich kaum vorstellen. Ich hatte zum Glück ein Bett direkt am Fenster.“ Dafür hatte er im Winter den Schnee auf der Bettdecke.

Körperliche Gewalt sei ihm in Berlin, im Gegensatz zu Budapest, nicht widerfahren. Dafür war die psychische Gewalt allgegenwärtig. Regelmäßig musste er zum Verhör und zur Umerziehung, um wieder „ein guter sozialistischer Mensch zu werden“. Gefangene wurden dazu angehalten, für die Aufseher zu spitzeln und ihre Mitgefangenen zu verraten. „Im Gefängnis lernte ich Menschen kennen, auf die kann man wirklich stolz sein. Aber eben auch solche, für die man nur Verachtung übrighaben kann.“ Hinzu kam die stete Angst, ob es nach zwei Jahren wirklich vorbei sei. Nicht selten kam es vor, dass die angekündigte Haftdauer von politischen Gefangenen nachträglich erhöht wurde. Ihren Höhepunkt erreichte die seelische Folter, als er nach einem Besuch seiner Mutter für 15 Tage in die fensterlose Arrestzelle im Keller gesteckt wurde. Den Grund kennt er bis heute nicht. „Meine Mutter fragte, wie viele Männer wir in einem Zimmer sind, und ich habe es ihr gesagt.“ Danach wurde er umgehend abgeführt.

Mittelalterliche Zustände im Gefängnis

„Das waren mittelalterliche Zustände da unten“, berichtet Wilfried Linz. Das „Bett“ war einfach ein Brett an der Wand, „man lag auf dem puren Holz“. Gegen 24 Uhr wurde es von den Wachen herunter- und um 4 Uhr früh wieder hochgeklappt. Der Boden war mit Sägemehl ausgestreut, damit die Wärter überprüfen konnten, ob der Gefangene sich hinsetzte oder hinlegte. „Es war gewollt, dass man dort durchgehend steht.“ Zu essen bekam er altes Brot und eine „Wassersuppe“ mit drei Stück Kartoffeln darin. „Es war menschenunwürdig. Von anderen habe ich sogar gehört, dass bei ihnen im Sommer die Heizung an- und im Winter ausgedreht wurde, wenn sie im Arrest waren.“ Wenigstens das sei ihm erspart geblieben. Das Schlimmste aber war der Geruch. „Als Toilette gab es nur einen Chlorkalkkübel, der in der Ecke stand. Der ätzende Gestank erfüllte den ganzen Raum.“

Danach dauerte es noch weitere acht Monate, bis Wilfried Linz dem System der DDR entkam. In seiner Zeit hinter Gittern hatte er sich unter den anderen politischen Gefangenen Freunde gemacht. Auch war bekannt, dass immer mal wieder Männer aus dem Gefängnis einfach so „verschwinden“ – sie waren von der Bundesrepublik freigekauft worden. Ein paar dieser Männer mussten sich nach ihrer Entlassung in den Westen für ihn eingesetzt haben, erzählt Linz. „Eines Tages standen zwei Uniformierte vor meinem Arbeitsplatz und sagten: ,Packen Sie Ihre Sachen und kommen Sie mit.‘“ Da wussten er und alle anderen um ihn herum: Jetzt ist es bald vorbei. Über einige Umwege – einer davon führte über die Stasi-Zentrale in Chemnitz, in der er gefragt wurde, ob er fortan nicht als Botschafter des Friedens (sprich: als Spion) für die DDR arbeiten wolle – kam er schließlich nach Westdeutschland, wo er von seinen Verwandten mit offenen Armen empfangen wurde. „Ab Gießen nahm alles seinen Lauf“, erzählt Wilfried Linz. Er konnte ein neues Leben beginnen und bald seine Eltern und seinen Bruder nachholen. „Wenn man so tief in den Abgrund geschaut hat und dann wieder rauskommt, das Gefühl kann man sich nicht vorstellen.“

Foto: epd-bild

Ganz konnte er die Erlebnisse von damals allerdings nicht abschütteln. Sein Wunsch, zur juristischen Fakultät zu gehen und danach anderen zu helfen, die in einer ähnlichen Situation waren wie er, blieb unerfüllt. Sein erster Besuch in einem Gefängnis brachte zu viele Erinnerungen zurück. Auch seine Familie blieb von den Folgen der Inhaftierung nicht verschont. „Nachdem ich verhaftet wurde, wussten meine Eltern über mehrere Monate nicht, ob ich überhaupt noch lebe, niemand hat sie benachrichtigt, was mit mir ist.“

Seine Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch und musste sich in eine Heilanstalt begeben. Beide Eltern verloren ihre Arbeit. „Ohne die Care-Pakete unserer Verwandten aus dem Westen hätten wir es sicher nicht geschafft. Und auch ich wusste, sobald ich aus dem Gefängnis gekommen wäre, wäre ich in der DDR gesellschaftlich tot gewesen.“ Nicht für Freunde und Familie. Aber für den Staat. „Ich hätte hier keine Zukunft gehabt.“

Später wird er Tierarzt in Rutesheim

Umso größer die Erleichterung, dass seine Freiheit nach dem Gefängnis nicht in der DDR begann, sondern in Westdeutschland. Hier studierte Wilfried Linz Tiermedizin in München und war bis zu seinem Ruhestand Tierarzt mit einer Praxis in Rutesheim und einer in Stuttgart.

In dieser Zeit bekam er Kontakt zu einem Professor am Robert-Bosch-Krankenhaus, der ihm eines Tages sogar ein Treffen mit dem einstigen Kanzler Kurt Georg Kiesinger ermöglichte. Ein großer Moment für Linz. „Das war für mich das wunderbarste Erlebnis“, erzählt er, „dass ich meine große Dankbarkeit für meine Rettung damals ausdrücken konnte.“

Wilfried Linz hat seine Erlebnisse von damals in seiner Biografie niedergeschrieben: „Die Akte W.L. Ein deutsch-deutsches Schicksal oder wie Ideologie zum Verbrechen werden kann“. Mehr unter www.linz-zeitzeuge.de.