Die Staatsgalerie Stuttgart widmet sich in einer großen Sonderschau dem Bildhauer Wilhelm Lehmbruck – allerdings aus streng wissenschaftlicher Perspektive. Für sinnliche Erlebnisse ist da wenig Platz; der Mensch Lehmbruck bleibt verborgen.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Sie werden einige Kilos auf die Waage bringen. Die Beine endlos lang, der Rumpf stattlich – und hoch droben schwebt der Kopf in luftiger Höhe. Auch wenn Wilhelm Lehmbruck bei seinen Figuren handfeste Körper formte, plastische Wesen mit stattlichen Ausmaßen, wirken diese Gestalten unwirklich. Die nackten Figuren mit gestreckten Gliedmaßen und viel zu langen Hälsen lassen nicht an Fleisch und Blut denken, sondern sind abwesend, in sich gekehrt, wie durchscheinend. Ein formgewordener Widerspruch: Materie, die wie Geistiges wirkt.

 

Zu Lebzeiten galt Wilhelm Lehmbruckals der bedeutendste lebende Bildhauer. Sein „Gestürzter“ in der Staatsgalerie Stuttgart, ein kniender Schlaks, der den Kopf so kläglich auf dem Boden abstützt, erinnert an das geballte Leid der menschlichen Kreatur. Lehmbruck hat seinen Figuren große, leise Trauer eingeschrieben. Die besten Arbeiten entstanden während des Ersten Weltkriegs. Kurz darauf, 1919, nahm sich der Künstler das Leben.

Jahre später verschlug es Lehmbrucks Familie nach Stuttgart, weshalb die Staatsgalerie Stuttgart neben eigenen Arbeiten auch mehrere Leihgaben der Familie im Bestand hatte. Im vergangenen Jahr konnten „Der Gestürzte“ und weitere Arbeiten angekauft werden, was die Staatsgalerie Stuttgart nun zum Anlass zu einer Sonderausstellung genommen hat. Wer allerdings auf eine umfassende Werkschau und einen Einblick in Lehmbrucks sinnliches wie existenzielles Werk hofft, könnte enttäuscht werden. Die Direktorin Christiane Lange und der Co-Kurator Mario-Andreas von Lüttichau haben eine durch und durch kunsthistorische Ausstellung entwickelt. „Variation und Vollendung“ führt ihre jüngsten Forschungsergebnisse vor – nüchtern und informativ.

Die Witwe hat nach dem Tod des Künstlers einige Plastiken nachgießen lassen

Lehmbrucks Witwe Anita scheint eine tüchtige Geschäftsfrau gewesen zu sein. Sie wusste, wie der Kunstmarkt tickt, weshalb sie nach dem Tod ihres Mannes zahlreiche Abgüsse seiner Plastiken herstellen ließ. Häufig wurde nun auch Bronze verwendet, die sich Lehmbruck zu Lebzeiten selten leisten konnte. Die Staatsgalerie hat sich die Mühe gemacht zu sondieren, was vom Künstler selbst und was nach seinem Tod gegossen wurde. Keine einfache Aufgabe, da das meiste nicht datiert ist und keine Verzeichnisse verraten, wie hoch die ursprünglichen Auflagen waren.

Die Ausstellung, so Christiane Lange, liefere „eine sehr neue Betrachtungsweise“. Man hat gesichtet, geordnet, analysiert, kategorisiert – und zusammengetragen. Die verschiedenen Figuren und Köpfe werden in der Schau stets im Doppel oder in dreifacher Ausfertigung präsentiert. In Reih und Glied stehen gar vier „Kleine Sinnende“ beieinander, in Bronze, Terrakotta, Zementguss und Gips.

Lehmbruck hat einige wenige Motive immer wieder aufgegriffen und reproduziert. Der „Großen Sinnenden“ von 1913 ist ein Schwerpunkt gewidmet. Auch sie gehört nun der Staatsgalerie. Anmutig ist auch das „Sitzende Mädchen“ von 1913, die Kleinplastik einer grazilen Frauenfigur, die ebenfalls in verschiedenen Materialien gegossen wurde. Die Körperhaltung ist fast manieristisch, die Beine tänzerisch wie beim Spagat gedehnt.

Präzise führt die Ausstellung die unterschiedlichen Varianten der Motive vor, zeigt die Oberflächenwirkung der diversen Werkstoffe, die allerdings nicht allzu prägnant sind. Der Mensch und Künstler Lehmbruck spielt dagegen keine größere Rolle. So erfährt man nichts von seinen frühen Jahren, seiner künstlerischen Entwicklung, seiner Zeit als Kriegsmaler und der Freistellung wegen Schwerhörigkeit. Nichts von der Geschlechtskrankheit, Depression oder der viel jüngeren Elisabeth Bergner, in die sich Lehmbruck hoffnungslos verliebte, was eine ernsthafte Ehe- und Lebenskrise auslöste.

In der Staatsgalerie geht es um Forschung – und nicht um die Wirkung der Werke

Auch die Wirkung der Arbeiten ist in der wissenschaftlich orientierten Präsentation nachrangig. Die Bildhauerkunst zeichnet aus, dass sie viele verschiedene Ansichten ermöglicht. Nicht so in der Staatsgalerie, wo die Plastiken zum Vergleich nicht nur nebeneinander gestellt wurden, sondern auch vor Wänden stehen, so dass sie ihre Raumwirkung nicht entfalten können und sich auch nicht umrunden lassen.

Das ist bedauerlich, macht aber deutlich, wie stark Lehmbruck gerungen und sich an den Motiven abgearbeitet hat. Auch in der separaten Ausstellung zu seinen Papierarbeiten, die nun erworben wurden, finden sich allerhand Skizzen zu den Plastiken, die der Wissenschaft wertvolle Erkenntnisse liefern und Querbezüge innerhalb des Werkes verraten mögen. Künstlerisch reichen sie allerdings nicht annähernd an die Qualität der Plastiken heran.

Bei vereinzelten Blättern kann man zumindest spekulieren, was für ein Mensch Lehmbruck gewesen sein könnte und was ihn an der Figur, vornehmlich der weiblichen, faszinierte. „Die Sklavin“ zeigt zwei Männer, die eine nackte Frau bedrängen, bei den sanften, elegischen Formen von „Raub I“ und „Raub II“ scheint der Künstler dagegen handfeste sexuelle Übergriffe im Sinn gehabt zu haben. Latente Gewalt, die unter der Oberfläche brodelt.

Der „Gestürzte“ durfte übrigens nicht in die Hauptausstellung, sondern ist ins Grafische Kabinett zu den Papierarbeiten gewandert. Denn der Zementguss wurde keineswegs vom Künstler selbst angefertigt, sondern ist nach dem Zweiten Weltkrieg für die Bundesgartenschau gegossen worden – und danach in die Staatsgalerie umgezogen.