Abschied vom Stuttgarter Zoo: drei junge Gänsegeier werden in Bulgarien freigelassen. Sie sollen die dortigen Bestände stärken – und ihren Eltern in der Wilhelma Ruhe für weitere Nachwuchsproduktion verschaffen.

Stuttgart - Mit ihren Besen in der Hand machen sich Sascha Royla und Pascal Herzog auf, einen Geier zu fangen. Der Vogel hat längst gemerkt, dass etwas in der Luft liegt. Er flattert von seinem Ast herunter und zieht sich in den zweiten Käfigteil zurück. Die beiden Tierpfleger laufen flink hintendrein– je länger das Fangen dauert, desto eher verletzt sich das Tier. Die Kunst, einen Gänsegeier zu fangen, besteht vor allem im geübten Umgang mit dem Besen. Kein spezieller Geierfangbesen, ein gewöhnlicher Reisigbesen erfüllt den Zweck: die knapp zehn Kilo schweren Tiere mit mehr als zwei Meter Spannweite und ihrem kräftigen Schnabel einzufangen, ohne zu verletzen oder verletzt zu werden.

 

In seiner Aufregung hüpft der Geier wild flügelschlagend durch die Voliere. Die Pfleger drängen in die Ecke und halten ihn mit den Besen auf dem Boden. Während Sascha Royla den Kopf des Geiers – und somit dessen gefährlichen Schnabel – in Schach hält, schnappt sich Pascal Herzog das verdutzte Tier. Fast wie ein Huhn hält er das Federtier unter seinem Arm.

30 Stunden Autofahrt

Der Vogel wird in eine große Kiste verpackt und mit zwei seiner Artgenossen in einen Transporter geladen. Für die drei jungen Gänsegeier bedeutet das Abschied von Stuttgart – und ein Aufbruch in die Freiheit. Nach gut 30 Stunden Autofahrt werden sie ausgewildert – ihre neue Heimat liegt in Bulgarien, im Balkangebirge.

Das Wilhelma-Zuchtprogramm der Gänsegeier ist seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Und das, obwohl die Vögel alles andere als anspruchslos sind. „Manchmal leben zwei Vögel jahrelang nebeneinander her, ohne dass etwas passiert“, erklärt Günther Schleussner. Der Kurator der Wilhelma kennt die verschiedenen Marotten und Vorlieben seiner Tiere genau: „Und dann macht man einen Partnertausch, und plötzlich klappt es mit dem Nachwuchs.“ In guten Jahren schlüpfen so bis zu drei Geierjunge in der Wilhelma. Neben guter Pflege hat das in Stuttgart vor allem auch mit der Größe der Geierpopulation zu tun. Manche Zoos halten nur ein Pärchen. Nachdem 1983 ein illegaler Tiertransport aufgeflogen war, fanden gleich sieben Exemplare eine Heimat im Stuttgarter Zoo – der Grundstein für die Geierzucht. Je nach Nachwuchs leben nun immer bis zu elf der Tiere in der Wilhelma.

Junge Geier stören bei der Paarung

Für die Jungtiere gibt es allerdings nicht genügend Platz im Geiergehege. Mehr noch, sie gehen ihren Eltern wahrlich auf die Nerven. In ihrem jugendlichen Temperament sind sie neugierig, aufgeregt – und manchmal schlichtweg lästig. Kurzum: sie halten ihre Eltern davon ab, weitere Jungen aufzuziehen.

Daher stand schon lange fest, dass der Nachwuchs abreisen muss. Bewerber um die Tiere gab es genug, die großen Vögel sind beliebt bei den Zoos. Im Rahmen des Europäischen Erhaltungszuchtprogrammes und anderer Zuchtprogramme kommt es oft vor, dass Tiere von Zoo zu Zoo getauscht werden. So wird sichergestellt, dass die sich paarenden Tiere genetisch möglichst unterschiedlich sind. Dadurch werden Inzuchterscheinungen vermieden.

Das Programm muss seriös sein

Doch die Wilhelma entschied sich in diesem Fall, die drei Geier auszuwildern und so die gefährdeten Wildbestände zu unterstützen. In Bulgarien leben Schätzungen zufolge noch 60 Gänsegeierpärchen. Nicht zuletzt dank mehrerer Auswilderungen hat sich der Bestand in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt. Damit es zu einer Auswilderung aus der Wilhelma kommt, müssen allerdings alle Faktoren stimmen, erklärt Günther Schleussner. Die Bedingungen vor Ort müssen gut sein, so dass die Tiere eine hohe Überlebenschance haben. Und das Programm muss seriös sein. „Es reicht nicht, die Kiste aufzumachen und das Tier freizulassen“, sagt Schleussner.

In Bulgarien angekommen, werden die drei Exilschwaben zunächst in einem großen Käfig gehalten, der dann im Laufe der Zeit immer länger offen steht. Auch werden sie vorerst noch an einem bekannten Futterplatz gefüttert, bevor sie sich dann hoffentlich anderen, wild lebenden Tieren anschließen und ein eigenständiges Leben führen können. Das wird allerdings noch dauern – vorher müssen sich die Geier einiges abschauen bei ihren wilden Artgenossen: den Orientierungssinn, das Segeln in einer Thermik oder das Aufspüren von Futter etwa. Frühestens im nächsten Frühjahr ziehen die Stuttgarter Gänsegeier dann ihre eigenen Kreise – am bulgarischen Himmel, in Freiheit.