Wolfram Rietschel verlässt nach mehr als 26 Jahren die Wilhelma in Stuttgart und geht in den Ruhestand. Der Zoo verliert nicht nur einen Tierarzt.

Stuttgart - Die Affenbande ist außer sich vor Aufregung. An der Glasscheibe drücken sich die Zwergschimpansen die Nasen platt. Einige von ihnen haben die Augen weit aufgerissen, andere ziehen eine Schnute, ein Affe trommelt gegen die Scheibe. Auf der anderen Seite steht Wolfram Rietschel - aber nicht der Besuch des Tierarztes verursacht den Trubel bei den Menschenaffen in der Wilhelma. Die Schimpansen interessieren sich vielmehr für Toni, die Doppelgelbkopf-Amazone, die auf Rietschels Schulter sitzt. Den Vogel scheint das Theater kaum zu beeindrucken.

 

Rietschel grinst. Er kennt die meisten Tiere im Zoo seit deren Geburt. Und viele der Tiere kennen auch ihn, weil er sie behandelt hat, weil er regelmäßig bei ihnen auf seinen "Hausbesuchen" in den Gehegen vorbeischaut. Manche sehen Rietschel mit ihren Facettenaugen, andere erschnüffeln ihn von weitem, und den Nächsten genügt nur ein Klimpern seines Schlüsselbundes. Dann wissen sie, dass der Tierarzt kommt.

Im Zoo hinterlässt er eine Lücke

Bald müssen sie sich an einen neuen gewöhnen. Ein Zoobesucher erkennt Rietschel und stellt ihm jene Frage, die er in jüngster Zeit häufig beantworten musste: "Wie lange sind Sie denn noch in der Wilhelma?" Nur noch bis Ende Mai, dann verabschiedet sich Rietschel in den Ruhestand. Im Stuttgarter Zoo hinterlässt er eine Lücke, die nun sein Nachfolger Tobias Knauf-Witzens schließen muss.

Wolfram Rietschel, geboren in Gießen, wurde vieles, das ihn prägte, in die Wiege gelegt. Sein Vater, ein Cousin zweiten Grades des Dichters Ringelnatz, war Zoologieprofessor und gut mit dem Tierforscher Bernhard Grzimek bekannt. Wolfram Rietschel hat sich gleich doppelt infiziert - seine Vorliebe für alles Tierische trifft auf einen tierischen Humor.

Der Doktor arbeitet als Cartoonist

Er ist treffsicher. Regelmäßig übt Rietschel mit dem Blasrohr, mit dem er Tiere vor einem Eingriff betäubt. Er bläst in der Krankenstation die Backen auf, und schon bohrt sich ein Betäubungspfeil in einen Pappkarton hinter dem OP-Tisch . Die Zielscheibe hat er selbst gezeichnet, sie sagt einiges über den Menschen Wolfram Rietschel aus: Der Pfeil steckt mitten in einer von ihm mit Filzstift gezeichneten Kreuzung aus Schwein und Hirsch.

Der Doktor reist in seiner Fantasie gerne durch Absurdistan. In einer Fachzeitschrift für Zootierärzte hat Rietschel seit vielen Jahren als Cartoonist seinen Stammplatz. Dabei macht er sich über Präservative für Giraffen, die Sicherheitskontrollen für exotische Tierarten an Flughäfen und vor allem über sich selbst lustig: Schwups, da biegt ihm auf einer seiner Zeichnungen ein Gorilla das Blasrohr in letzter Sekunde so um, dass der Betäubungspfeil wohl im Arzt und nicht im Patienten stecken bleibt. Humor kann eine Waffe sein, Rietschel verwendet sie mit Hintersinn. "Ich zeichne überall, auch in langweiligen Sitzungen", sagt er und legt eine kurze Kunstpause ein. "Von denen gibt es ja reichlich."

Mehr als 26 Dienstjahre

Wenn er mit dem Zeichenstift komische Situationen aufspießt, benötigt Wolfram Rietschel genau jenes Fingerspitzengefühl, das auch für einen guten Tierarzt unerlässlich ist. Mal lahmt eine Giraffe, mal leidet ein Eisbär unter Appetitlosigkeit, und Zahnschmerzen sind für einen Orang-Utan genauso quälend wie für einen Menschen. Rietschel hält seinen linken Zeigefinger in die Höhe, dessen Kuppe ungewöhnlich flach ist. "Das stammt von der Zahnbehandlung eines Jaguars", erzählt der 65-Jährige, "es war keine Absicht, sondern nur ein Reflex. Das Tier war betäubt, und der Klemmkeil ist zwischen den Zähnen verrutscht."

Die Fingerspitze ist der einzige sichtbare Verlust, den Rietschel während seiner mehr als 26 Dienstjahre in der Wilhelma erlitten hat. So lautet der Titel eines seiner nächsten Vorträge denn auch: "30 Jahre Zootierarzt und noch immer fast alle Finger." Rietschel lächelt und erzählt, dass es ausgerechnet vielen Zoodirektoren in Deutschland da ganz anders gehe, weil sie mit Affen unliebsame Erfahrungen gemacht haben. "Die suchen sich aus einer Gruppe von Menschen zielsicher das Alphatier für eine Attacke aus."

Ausdauer beweist er auch in seiner Freizeit

Am liebsten erzählt Rietschel seine Geschichten vom Doktor und dem lieben Vieh im Laufschritt. Seine Praxis ist 30 Hektar groß, seine Patienten stammen aus der Arktis und der Wüste, sind klein wie Erdmännchen oder groß wie Panzernashörner. Bei seinen Rundgängen wird Rietschel täglich zum Marathonmann. Ausdauer beweist er auch in seiner Freizeit: Zuletzt schwitzte er in Jordanien bei einem Ultra-Marathon mit, am Sonntag läuft der Tierarzt wieder beim Stuttgarter-Zeitung-Lauf.

Der Streckenabschnitt am Neckarufer befindet sich in Blasrohrdistanz zum Zoo. Rietschel schließt die Tür zur Krankenstation hinter sich. Der Tukan leidet unter Durchfall. Der Schildkröte, die Probleme beim Eierlegen hatte, geht es besser. Rietschel beschleunigt seinen Schritt, weil er zu einer Gazelle muss, die sich am Gitter verletzt hat. Da bleibt er abrupt vor einem Mann stehen, der einen Kinderwagen im XL-Format schiebt. Rietschel beugt sich zu den Drillingen herab, zeigt mit dem Finger auf den Vogel auf seiner Schulter und fragt den Vater: "Wollen wir tauschen?"

Rietschel zeichnete in "Die Montagsmaler"

Der Tierarzt kennt keine Berührungsängste. Weder bei Fellträgern, noch bei Federvieh oder Frackträgern. Deshalb und auch wegen seiner Fernsehauftritte - unter anderem zeichnete er früher in der Show "Die Montagsmaler" - ist Rietschel im Zoo bekannt wie ein bunter Hund.

Auch an einem seiner letzten Arbeitstage läuft in der Wilhelma wieder die Rietschel-Show. Kurz vor dem Gehege, das sich die Dschelada-Affen und die Mähnenschafe teilen, duckt sich der Tierarzt und versteckt sich hinter dem Rücken seines Begleiters. Die Affen haben ihren Ausblick besetzt. Eines der Tiere hockt auf einem Felsen und warnt die anderen vor Gefahren. Der Tierarzt gehört für die Dscheladas in diese Kategorie. Als sich Rietschel kurz vor der Mauer den Affen zeigt, hebt zur Erheiterung des Publikums ein Brüllen und Bellen an. Der Affenalarm.

Ein Tierarzt muss ein Teamplayer sein

Nur hundert Meter entfernt herrscht ebenfalls dicke Luft. Die Elefantenladys rempeln einander an, Staub wirbelt auf, eine der Damen verteilt ganz ungalant mit ihrem Rüssel eine Watschen. Rietschel beobachtet die Szene und spricht dann einen der Tierpfleger bei den Dickhäutern an: "Was ist denn da draußen los? Die kloppen sich ja wie die Halbstarken!"

Ein Tierarzt muss ein Teamplayer sein, Rietschel ist bei seinen Behandlungen auf die Beobachtungen der Pfleger angewiesen, die ihre Tiere seit Langem kennen. Bei den Elefantendamen Molly, Pama und Zella ist der Fall schnell geklärt: Seit dem Tod von Vilja, der ältesten Dame in der Dickhäuteranlage, stimmt die Chemie nicht mehr. Auf dem Spielplan steht daher immer häufiger: die drei von der Zankstelle.

Die Tierhaltung hat sich sehr verbessert

Wolfram Rietschel nimmt wieder Tempo auf, die nächsten Patienten warten schon. Sein Weg führt ihn von der Vergangenheit des Zoos in dessen Zukunft. Oder anders gesagt: von der in die Jahre gekommenen Elefantenanlage aus zur Baustelle des neuen Menschenaffenhauses. Seit Rietschel Mitte der achtziger Jahre in der Wilhelma angefangen hat, "hat sich die Tierhaltung sehr verbessert. Und dennoch gibt es noch viel Luft nach oben". Der Weg in die Zukunft des Zoos scheint für ihn vorgezeichnet zu sein: weniger Tiere werden in deutlich größeren Anlagen leben.

Am Ende seiner Laufbahn denkt Wolfram Rietschel an einen seiner ersten tierischen Patienten zurück: einen Storch, der auf der Pragstraße von einem Auto angefahren wurde. Rietschel versorgte den offenen Bruch am Bein des Vogels. "Seitdem kehrt der Wildstorch jedes Jahr wieder in die Wilhelma zurück", erzählt Rietschel. Der Zoo ist für den Vogel zur zweiten Heimat geworden. Für den Tierarzt auch.

Im Zoo groß geworden

Familie: Schon Teile seiner Kindheit hat Wolfram Rietschel mit Tieren verbracht: Als Sohn eines Zoologieprofessors wuchs er mit den Bewohnern des Frankfurter Zoos auf. Nach seinem Studium lebte Rietschel längere Zeit im Ausland - unter anderem in Afghanistan, wo er den Zoo mit aufbaute, und in Thailand. Die Natur beschäftigt auch seine beiden Brüder, die als Biologen arbeiten. Wolfram Rietschel ist verheiratet und lebt in Bad Cannstatt. Seine Tochter wohnt in New York, sie ist Professorin für Humanmedizin. Rietschel hat einen Enkelsohn.

Wilhelma: Am Freitag wird der Tierarzt in der Wilhelma bei einer internen Betriebsfeier verabschiedet. Rietschel hält regelmäßig Vorträge im Zoo, den nächsten allerdings erst im Januar. Nur eine Trennung ist endgültig: die von der Amazone Toni, die ihn bei seinen Rundgängen begleitet hat. Sie bleibt in der Wilhelma.