William McIlvanney hat in seinen Krimis ein Glasgow beschrieben, das Touristen nicht (mehr) finden. Der Fotograf Oscar Marzaroli hat es in Bildern festgehalten. Passenderweise gibt es einen Fotoband, der die Talente der beiden Schotten zusammenführt.

Stuttgart - Auch arme Nachbarschaften sind Nachbarschaften. Vermutlich sind sie das sogar sehr viel mehr als die Viertel der Begüterten, weil unter den bedrängt wohnenden Armen die gegenseitige Hilfe und die Abstimmung über die Grenzen der Selbstentfaltung wichtiger sind als unter denen, die mehr Raum zur Verfügung haben und genügend Mittel, sich selbst zu erhalten. Im Zuge des sozialen Wohnungsbaus sind überall auf der Welt sogenannte Slums platt gemacht worden, um effiziente neue Hochhaus- und Großblockkomplexe errichten zu können. Beim Umzug in die neuen Wohnungen blieb die Nachbarschaftlichkeit aber zurück, wurden die gewachsenen Sozialstrukturen irreparabel beschädigt. Die neuen Slums waren in mancher Hinsicht schlimmer als die alten. Das schottische Glasgow galt lange als Musterbeispiel dieser Entwicklung.

 

Der Glasgower Fotograf Oscar Marzaroli (1933-1988) hat auch diesen Aspekt der Stadtentwicklung in eindrucksvollen Bildern festgehalten. Seine immer mal wieder von einer leichten Diesigkeit bestimmten Schwarzweißbilder des alten Glasgows der industriellen Gründerzeit, das weit ins 20. Jahrhundert hineinragte, sind an Architektur nicht als Großskulptur interessiert, sondern als bestimmende Kraft für das Leben der Menschen nichts schauernd Schaulustiges an. Diese Fotos stehen auf Seiten der Abgelichteten, es sind gelungenen Versuche, auch ein paar der zum Vergessenwerden Bestimmten im kollektiven Gedächtnis zu halten.

Das wäre also ein guter Grund, sich ein paar der neueren Fotobände mit Arbeiten von Marzaroli zuzulegen. Für Leser von Killer & Co. dürfet es lohnend sein, nach einem vergriffenen älteren, antiquarisch aber noch leicht greifbaren Band zu suchen, „Shades of Grey: Glasgow 1956-1986“ (Mainstream Publishing, Edinburgh 1987). Dessen einleitenden Text über den besonderen Charakter von Glasgow hat nämlich William McIlvanney geschrieben. Was er da auf wenigen Seiten an klugen Einsichten, historischen Erläuterungen und ausdrucksstarken Anekdoten serviert, zeigt nicht nur, was für ein großartiger Autor er war. Es liefert auch ein Musterbeispiel für das, was er als Glasgower Eigenarten ausmacht, fürs Unprätentiöse, Kämpferische, Realitätszugewandte. Für zwei Arten Menschen ist „Shades of Grey“ eine dringlich zu empfehlende Anschaffung: für Freunde von McIlvanneys Glasgow-Krimis, und für alle, die noch nie etwas von ihm gelesen haben.

Oscar Marzaroli/William McIlvanney: „Shades of Grey: Glasgow 1956-1986“. Mainstream Publishing, Edinburgh 1987. 223 Seiten. Beziehbar über Antiquariate.