Willy Brandt war in den 40er Jahren ein Flüchtling in Stockholm, im Widerstand gegen das deutsche Naziregime – und wurde intensiv vom schwedischen Geheimdienst bespitzelt, wie die Auswertung von Akten belegt.

Berlin - Seit einigen Tagen schon ist der Deutsche auf der Flucht durch die Wälder und Hügel Norwegens. Aus Oslo kommend hat er mit einem Fjorddampfer den lang gestreckten See Oyeren Richtung Osten überquert, ist dann per Anhalter und mit dem Zug übers Land gefahren, um schließlich die letzte Etappe zu Fuß zurückzulegen. Sein Ziel ist ein Bauernhof an der schwedischen Grenze, wo ihn der eingeweihte Besitzer bereits erwartet.

 

Am Abend des 30. Juni 1940 verlässt der Mann den Bauern und erreicht schließlich, um 22.30 Uhr, die Grenze bei Skillingmark. Es regnet seit Stunden, seine Kleidung ist durchnässt, und er friert erbärmlich. Aber er muss warten, bis ein Grenzposten vorbeikommt. Auf keinen Fall will er illegal nach Schweden einreisen, weil man ihn sonst wieder zurückschickt nach Norwegen. Die nazifreundliche Quisling-Regierung in Oslo würde ihn, den politischen Emigranten aus Deutschland, umgehend an die Gestapo ausliefern.

Es ist ein Uhr nachts, als endlich eine schwedische Grenzpatrouille heranmarschiert. Der Mann geht zu den Soldaten und stellt sich vor: Sein Name ist Herbert Frahm, er ist Deutscher und wird von den Nazis in Norwegen gesucht, weshalb er um politisches Asyl bittet. Einer der Soldaten zieht seine Jacke aus, hängt sie dem frierenden Mann um. Dann fahren sie mit ihm zur Grenzgarnison in Charlottenberg. Es ist der 1. Juli 1940. Herbert Frahm, der knapp 30 Jahre später unter dem Namen Willy Brandt zum deutschen Bundeskanzler gewählt werden wird, ist in Sicherheit.

Der Brandt-Ordner hat die Nummer P 1738

In einem Industriegebiet in Arninge, einer Kleinstadt etwa 40 Kilometer vor Stockholm, befindet sich die Außenstelle des in Stockholm ansässigen schwedischen Reichsarchivs. In dem von einem grünen Drahtzaun umgebenen Gebäude lagern viele der wichtigsten Akten zur schwedischen Geschichte. Darunter auch Hunderte Ordner, die der schwedische Geheimdienst, das sogenannte 6. Büro der Staatspolizei, über politische Emigranten in der NS-Zeit anlegte.

Drei dieser Ordner, die man seit einigen Jahren in Arninge einsehen kann, tragen die Registriernummer P 1738 und die Aufschrift: „FRAHM, Herbert Ernst Karl alias BRANDT, Willy“. In den insgesamt 130 Seiten umfassenden Ordnern kann man Brandts Schilderung seiner Flucht nach Schweden nachlesen, die er bei einem Polizeiverhör machte. Vor allem aber dokumentieren die Ordner die Überwachung des deutschen Emigranten durch die schwedischen Behörden, und zwar seit seiner Flucht am 1. Juli 1940 nach Schweden bis Kriegsende und darüber hinaus. Die Akte enthält die Protokolle abgehörter Telefonate Brandts, Observationsberichte und Aussagen von Spitzeln. Sogar eine Schriftprobe seiner Schreibmaschine ist abgeheftet worden.

Der Flüchtling gerät unter Spionageverdacht

Der Verfolgungseifer des 6. Büros gegenüber politischen Emigranten während des Zweiten Weltkrieges hat mit der besonderen Stellung Schwedens zu tun. Das politisch neutrale Königreich achtete peinlich genau darauf, sich weder den Achsenmächten noch den Alliierten anzudienen. Nach der Besetzung der Nachbarländer Dänemark und Norwegen am 9. April 1940 aber wuchs auch in Schweden die Furcht vor einem deutschen Angriff. Unbedingt wollte man daher den Eindruck vermeiden, in politische oder gar militärische Aktivitäten gegen das Reich verwickelt zu sein. Es gab sogar eine geheim gehaltene Kooperation mit dem NS-Regime. So weilten im Februar 1941 drei schwedische Geheimdienstbeamte zu einem „Gedankenaustausch“ bei Reinhard Heydrich, dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes.

Ein knappes halbes Jahr zuvor, am 30. September 1940, wird in der Frahm/Brandt-Akte des 6. Büros der erste Vermerk abgeheftet. An diesem Tag durchsuchen Beamte das Hotel Jernberg in der Stockholmer Sturegatan 60. Hier wohnt auch der 1913 in Lübeck als Herbert Frahm geborene Brandt, Mitglied des SPD-Ablegers Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). 1933 ist er nach Norwegen geflohen, fünf Jahre später bürgerte ihn Hitlerdeutschland aus. 1940 erhielt der Staatenlose die norwegische Staatsbürgerschaft.

„Antideutsche Propaganda“

In Stockholm arbeitet er – wie auch schon zuvor in Oslo – als Journalist, er verfasst Bücher und berichtet als Mitarbeiter eines Pressebüros in mehr als 70 schwedischen Tageszeitungen über die Situation im besetzten Nachbarland. Frahm schreibt unter seinem Autorenpseudonym Willy Brandt – dem Namen, den er nach Kriegsende annehmen wird. Neben seiner publizistischen Tätigkeit engagiert sich Brandt auch politisch in der norwegischen Exilgemeinde und in der „Internationalen Gruppe demokratischer Sozialisten“, der sogenannten Kleinen Internationalen in Stockholm, der unter anderem auch der spätere österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky angehört.

Der schwedische Geheimdienst registriert genau die Aktivitäten Brandts. In einem Vermerk heißt es, bei ihm handele es sich um „einen sehr illoyalen norwegischen Flüchtling“, den man „weiter beobachten sollte“. Er stehe im „Verdacht der antideutschen Propaganda“ und der Spionage für den englischen Geheimdienst.

Der Spionageverdacht gegen Brandt entsteht Anfang 1941, nachdem der mittlerweile 27-Jährige von einer Reise nach Norwegen zurückgekehrt ist. Über Weihnachten 1940 war Brandt unter falschem Namen ins besetzte Norwegen gereist, hatte dort Widerstandskämpfer getroffen und Parteifreunde. Nach seiner Rückkehr nach Stockholm am 2. Januar 1941 verfasst er viele Artikel über die Lage in Norwegen und den dortigen Freiheitskampf gegen die deutschen Besatzer.

Anfang 1941 ordnet das 6. Büro eine Postkontrolle gegen Brandt an. Der Geheimpolizei fallen so mindestens fünf Briefe des Journalisten in die Hände, die er an die New Yorker Presseagentur Overseas News Agency (ONA) schickt. Die ONA, für die Brandt seit Ende 1940 gegen ein Honorar von 150 schwedischen Kronen als Korrespondent arbeitet, ist ein Tochterunternehmen der Jewish Telegraph Agency. In norwegischen Nazizeitungen wird die ONA als „jüdisches Hetzbüro“ diffamiert. Spätestens ab Frühjahr 1941 übernimmt der britische Geheimdienst SIS die Finanzierung der ONA und profitiert auf diese Weise von den Informationen der ONA-Korrespondenten.

Verhaftung durch die Geheimpolizei

Am 28. März 1941 wird Brandt von der schwedischen Geheimpolizei verhaftet. Anlass sind seine beschlagnahmten Briefe, die die ONA nie erreicht haben und die sich heute noch in der Frahm/Brandt-Akte im schwedischen Reichsarchiv befinden. Der Verdächtige habe Informationen über die Verhältnisse in Norwegen und Schweden an Empfänger in den USA weitergegeben, behaupten die Beamten. Eine Woche lang wird Brandt verhört, man wirft ihm Spionage vor, aber dann entlässt ihn die Polizei mangels Beweisen wieder.

In den Verhören teilen die Beamten Brandt nicht mit, dass sie seine Briefe an die ONA konfisziert haben. Auch später wird er das nie erfahren. Noch in seiner 1989 veröffentlichten Autobiografie vermutet er eine Denunziation als Grund für seine damalige Verhaftung. Die Akte des 6. Büros, in der sich auch die Briefe befinden, wird erst 1999 an das Reichsarchiv übergeben, sieben Jahre nach Brandts Tod.

Worüber Willy Brandt aus dem Exil berichtet

Brandts Briefe an die ONA sind keine Agentenberichte. Es sind Reportagen und journalistische Berichte, manchmal sind es auch nur kurzgefasste Notizen, die als Mosaikstein für Übersichtsartikel der ONA dienen könnten. So schreibt Brandt in einem Brief vom 12. Januar 1941 etwa darüber, mit welchen Erkennungszeichen an ihrer Kleidung die Norweger ihren Widerstand gegen das nazifreundliche Quisling-Regime ausdrücken: Büroklammern und Sicherheitsnadeln drücken demnach den Zusammenhalt der Widerständler aus, der aus einem Knopfloch ragende rote Kopf eines Streichholzes stehe für den „rot glühenden Hass“ auf die Faschisten. In den Kinos störten Zuschauer durch lautes Husten die Vorführung von deutschen Ufa-Filmen, berichtet Brandt in einem anderen Schreiben. Auch dass eine im Untergrund agierende „Norwegische Front“ Zeitungen, Plakate und Flugblätter veröffentliche. Unter der Bevölkerung wachse die Empörung über Korruption und Bereicherung der Quisling-Funktionäre, weiß der Journalist zu berichten, auch seien Gymnasiasten und Lehrer wegen ihrer oppositionellen Haltung verhaftet worden.

Erst 1971 wird die Akte geschlossen

In einem Brief vom 25. Februar 1941 kommt Brandt auf die wachsende Gefahr einer deutschen Okkupation Schwedens zu sprechen und gibt öffentliche Einschätzungen führender Generäle und des „überwiegend deutschfreundlichen Militärs“ wieder. In anderen Berichten geht er auf die Versorgungslage in den skandinavischen Ländern ein oder beschreibt Defizite der schwedischen Volkswirtschaft. Er referiert, was sowjetische Diplomaten über das Verhältnis zwischen Moskau und Berlin denken, und notiert, was er über Fälle von Judenverfolgung in Deutschland und Folter an norwegischen Widerstandskämpfern erfahren hat. Nach Kriegsende 1945 geht Brandt zunächst nach Oslo, 1947 kehrt er nach Deutschland zurück. Ein Jahr später erhält er seine deutsche Staatsbürgerschaft wieder und beginnt seine politische Karriere in der SPD.

Der schwedische Geheimdienst behält Willy Brandt noch über viele Jahre hinweg weiter im Blick. Der letzte in seiner Akte noch vorhandene Bericht stammt vom 8. November 1948: Brandt, so heißt es dort, „ist in sein Heimatland zurückgekehrt, repräsentiert in Berlin die SPD“. Danach folgen noch Kopien von Zeitungsartikeln bis zum Jahr 1964. Erst am 26. März 1971 wird seine Akte vom schwedischen Geheimdienst „ad acta“ verfügt, wie ein Stempelaufdruck verrät. Es ist das Jahr, in dem Brandt den Friedensnobelpreis bekommt.