Dieser Tage ging der Windpark Riffgat in der Nordsee in Betrieb – mit erheblicher Verspätung. Ein Grund: auf der vorgesehenen Stromtrasse lag sehr viel Munition aus dem Zweiten Weltkrieg am Meeresgrund. Dies muss nun auch bei anderen Windpark-Projekten aufwendig weggeräumt werden.

Stuttgart - Mathias Bölt zückt sein Smartphone und zeigt ein Foto: „Eine Artilleriegranate, 12 8er“, ruft er und versucht, das Röhren des Dieselmotors zu übertönen. Bölt und vier Männer in orangen Sicherheitsjacken und Schwimmwesten drängen sich in den Windschatten des Zubringerschiffs William Wallace. Von der Nordsee bläst ein frostiger Wind, der mit jedem Kilometer, den sich das Schiff aus dem Hafen in Norddeich entfernt, unbarmherziger in die Glieder dringt.

 

Zwei Mal pro Woche fuhr Projektingenieur Bölt vom Minenräumungsunternehmen Boskalis Hirdes im vergangenen Jahr mit dem Schiff hinaus auf die „Baustelle“. Die Baustelle, das ist eine 42 Kilometer lange Trasse, die sich von der deutschen Nordseeküste an Jüst und Borkum vorbei bis zum Offshore-Windpark Riffgat zieht. Hier musste das Kabelunternehmen Tennet aus Bayreuth ein oberschenkeldickes Kabel verlegen, um den Strom der Windräder an Land zu bringen. Die Arbeiten sollten schon im März 2013 abgeschlossen sein – und damit den Ausbau der Energiewende beschleunigen. Doch am Meeresboden wimmelte es von Munition, mit der Tennet nicht gerechnet hat. Insgesamt lagern geschätzte 1,6 Millionen Tonnen konventioneller und bis zu 70 000 Tonnen chemischer Kampfmittel in der Ost- und Nordsee.

Ausgediente Munition im Meer entsorgt

Nach dem Zweiten Weltkrieg bezahlten die Alliierten Fischer, damit diese ausgediente Kampfstoffe in ausgewiesenen Gebieten versenkten. Sie zahlten pro Fahrt. So entledigten sich die Seemänner der Fracht bisweilen an unvorhergesehener Stelle, sobald sie außer Sichtweite des Hafens waren. Die starke Strömung im Wattgebiet und die Schleppnetzfischerei verfrachteten zudem Bomben und Granaten. Die tragische und späte Konsequenz: Obwohl auf Tennets Trasse laut amtlicher Seekarten keine Rüstungsgüter liegen sollten, ist sie voll davon. „Nur 30 bis 40 belastete Gebiete sind auf Seekarten eingetragen. Wir kennen aber an die 120 und haben weitere Verdachtsfälle“, erklärt der Koblenzer Meeresbiologe und Munitionsspezialist Stefan Nehring. Meistens sind die Gebiete noch dazu viel größer als auf dem Papier, so auch im Riffgat. „Mit dem Ausbau der Offshore-Windenergie kommt die wahre Dimension des Problems jetzt ans Licht“, sagt Nehring.

Die Baufirmen müssen nun die gefährliche Altlast bergen. Würden die Geschosse beispielsweise beim Verlegen eines Kabels touchiert, könnte es zu „einer Massendetonation kommen, weil die Munition oft in Haufen liegt. Das könnte Teile des Kabelverlegeschiffs zerstören und Menschen verwunden“, erklärt Mathias Bölt die Gefahr. Deshalb ist Boskalis Hirdes seit Februar 2012 beauftragt, die Munition aus dem Meer zu holen.

„Extrem hohe Munitionsbelastung“

„Die Stromtrasse zum Windpark Riffgat hätte viel früher fertig sein können, wenn die Munitionsbelastung dort nicht extrem hoch wäre“, urteilt Claus Böttcher vom schleswig-holsteinisches Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume. Böttcher ist zugleich einer der Sprecher der Bund-Länderarbeitsgruppe „Munition im Meer“. Auch bei zwei weiteren Windparks vor Helgoland, die zurzeit gebaut werden, stießen die Arbeiter auf Minen, weiß er. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe warnt in ihrem jüngsten Bericht, dass „nur ein geringer Teil der Kampfmittel belasteten Flächen bekannt ist und dass die Munitionsprobleme mit den Offshore-Projekten in zunehmendem Maße zu Tage treten werden“. Für Nehring ist deshalb klar: „Das wird auf jeden Fall die Energiewende um viele Monate, wenn nicht Jahre verzögern.“ Denn: „Auf jeder Trasse und bei jedem Park muss man mit Minen und Granaten rechnen.“ Das Riffgat lehrt, wie aufwendig das sein kann. Drei Arbeitsschiffe und rund 80 Mann waren hier fast zwei Jahre lang rund um die Uhr im Einsatz, um Munition zu beseitigen.

Professionelle Taucher könnten die Minen aufsammeln. Doch das ist gefährlich und teuer. Deshalb schwimmt ein unbemanntes Unterwasserfahrzeug zu den Geschossen: ein rund zwei mal zwei Meter großer roter Würfel. Er ist der eigentliche Spürhund bei der Minensuche – mit Greifarm, Saugrüssel, mehreren Kameras und einem Metalldetektor ausgestattet. Knapp 30 Tonnen Munition haben die Arbeiter mit diesem Roboter und einem Magneten auf der Trasse geborgen, ehe diese im September 2013 endlich für munitionsfrei erklärt werden konnte.

Kampf gegen die Strömung

Die Minenräumung im Wattenmeer ist dabei ein Kampf gegen die Strömung und um kostbare Minuten. Nur vier Mal am Tag und in der Nacht, alle vier Stunden, ist die Strömung für kurze Zeit so schwach, dass das Unterwasserfahrzeug dagegen anschwimmen kann. „Wir sind auf diesen Moment zwischen Ebbe und Flut angewiesen wie beim Jojo, wenn es kurz unten stehen bleibt“, sagt Unterwasserfahrzeugspezialist Tim Parkes. Seit 16 Jahren arbeitet der Brite mit Unterwasserfahrzeugen. Vor Indonesien suchte er damit zuletzt nach Öl und Gas, aber „das hier ist der schwierigste Arbeitsplatz“. Die Fahrzeuge sind für Wassertiefen von 3000 Metern gebaut. Das Wattenmeer ist dagegen nur sieben bis zwanzig Meter tief. Das macht das Manövrieren schwer, aber tauglichere Geräte gibt es bisher nicht.

Erfahrene Spezialisten wie Mathias Bölt können sämtliche Geschosse am Aussehen identifizieren und oft binnen weniger Minuten entscheiden, ob sie gefährlich sind. Munition, die nicht ohne Weiteres detonieren kann, wird in roten Metallcontainern am Meeresgrund gesammelt. Der staatliche Kampfmittelräumdienst liest diese Boxen von Zeit zu Zeit auf und vernichtet den Sprengstoff in Spezialanlagen an Land.

Große Minen werden vor Ort gesprengt

Große Seeminen und gefährliche Munition, die nicht sicher an Bord transportiert werden können, sprengen die Arbeiter in der Nordsee. Drei Minen waren 2012 auf Tennets Trasse. Mit einer großen Glocke verscheucht die Besatzung die Robben im Wasser, um sie vor der Wucht und dem Lärm der Detonation zu schützen. Dann bringt sich die Mannschaft in Tausend Metern Entfernung in Sicherheit. In der Ferne schießt eine haushohe Wassersäule empor.

„Die milliardenschwere aufwendige Räumung zahlt am Ende der Stromkunde“, sagt Claus Böttcher vom schleswig-holsteinisches Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume. Die Bundesregierung beteiligt sich nicht an den Kosten. Sie hat aber zugesagt, dass sie für den Schadenersatz aufkommt, wenn die Offshore-Windparks nicht rechtzeitig ans Netz gehen. „Die Übernahme des Schadenersatzes durch die Bundesregierung ist eine Vollkaskoversicherung für alle Netzbetreiber und eine Garantie zum Gelddrucken“, kritisiert Böttcher. So fehle jeder wirtschaftliche Anreiz, die Munition effizient und schnell zu räumen. Er nimmt aber auch die Bergungsfirmen in Schutz: „Es gibt technisch derzeit keine anderen Möglichkeiten, die Munition schneller und gefahrloser zu bergen. Aber man müsste dringend Spezialgeräte entwickeln.“

Der Windpark Riffgat

Windpark
Der deutsche Offshore-Windpark Riffgat wurde nach 14-monatiger Bauzeit im August 2013 eingeweiht. Allerdings war die Stromtrasse zum Land noch nicht fertig, so dass die 30 Windmühlen zunächst in Warteposition betrieben werden mussten. Dabei sorgten Notstrom-Dieselgeneratoren unter anderem dafür, dass sich die Windräder drehten und es zu keinen Schäden kam. Seit Mitte Februar fließt nun Strom vom Windpark ans Land.

Minen
Von Februar 2012 bis September 2013 wurde die Kabeltrasse zum Windpark von Munition aus dem Zweiten Weltkrieg freigeräumt. Rund 30 Tonnen Munition waren im Weg. Räumung und Verzögerung bei der Anbindung haben laut dem Betreiber Tennet zu Mehrkosten von 100 Millionen Euro geführt.

Gefahr
„Bei der Räumung passiert nicht viel. Aber wenn, dann gibt es Tote“, sagt Mathias Bölt, Kampfmittelräumspezialist vom Unternehmen Boskalis Hirdes. Die Unterwasserfahrzeuge, mit denen die Munition am Meeresgrund aufgesammelt wird, sind vergleichsweise sicher. Die gefundene Munition wird mit Hilfe der Kameras des Tauchroboters noch im Wasser identifiziert und gelangt damit erst gar nicht an Deck. Doch die unbemannten Fahrzeuge sind recht langsam, weil sie mit ihrem Greifarm nur ein Geschoss nach dem anderen auflesen können.