Das Weindorf fällt aus – doch quer durch die Stadt gibt’s an etlichen Orten ein Weindörfle. Den Auftakt hat die „Winetime“ auf dem neuen Infoturm Stuttgart am Bahnhof gemacht. Anstoßen mit Aussicht bei Sonnenuntergang kommt an.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Der beste Wein ist immer der, den man mit Freunden trinkt. Die alte Weisheit gilt auch in einem Jahr, in dem alles anders ist. Erstmals in seiner 44-jährigen Geschichte muss das Stuttgarter Weindorf aufgrund der Corona-Gefahren virtuell feiern, also „wirtuell“, wie man dazu auf Neu-Schwäbisch sagt. Auf persönliche Begegnungen müssen Freunde des Weins aber nicht verzichten, auch wenn die gemütlich aneinander gebauten Lauben in der Innenstadt in der Saison 2020 aus gutem Grund fehlen.

 

Was wir bereits vom Volksfest kennen, das mit etlichen, quer durch die Stadt verteilten Buden in der City seit einigen Tagen einen kleinen Ersatz bietet, können wir nun auch beim Weindorf beobachten. Etliche Wirte des 1976 gegründeten Weintreffs bauen vor ihrem Restaurant oder auf ihrem Weingut Lauben auf – für eine kleine, überschaubare Besucherschar, die sich unter Einhaltung der Corona-Gesetze im Freien trifft.

Bei der Premiere sind die geladenen Gäste begeistert

Als erstes kleine Stuttgarter Weinfest in diesem Spätsommer ist am Dienstagabend die „ITS Winetime“ auf dem neuen Infoturm am Stuttgarter Hauptbahnhof gestartet. Auf den beiden oberen Etagen – einer Dachterrasse und einer „halben Dachterrasse“ mit Konferenzraum darunter – werden bis zum 6. September (also an allen Weindorftagen) die Hamsteredition vom Weingut Diehl aus Rotenberg und Speisen von Weller serviert. Die Rundum-Aussicht ist grandios, und allein der Sonnenuntergang ist ein Genuss: Sunset mit Wine & Spirit – dies ist bei der Premiere mit 40 geladenen Gästen sehr gut angekommen.

Wie der Bonatzbau eines Tages aussehen soll

Bernhard Bauer, seit einem Jahr der Vorsitzende des Vereins Bahnprojekts Stuttgart–Ulm, führte als Hausherr die Gäste in kleinen, Corona-konformen Runden durch die Ausstellung, die seit Mai dieses Jahres im roten Infoturm am Gleis 16 zu sehen ist. Der Umzug in ein temporäres Domizil war notwendig geworden, weil der Bahnhofsturm, der bisherigen Ausstellungsort, saniert wird. Besucher, die völlig beeindruckt von der Graffiti-Galerie im nun leer geräumten Bonatz-Bau gekommen sind, konnten nun in der interaktiven Darstellung mit virtueller Durchflugsmöglichkeit sehen, wie der Bahnhof nach 2025 als „Einkaufstempel“ aussehen soll und wie schön das Rosensteinquartier, dort, wo heute die Gleisanlagen liegen, mit Wohnungen, einem Park und Wasserflächen werden könnte, wenn es die Realität eines Tages schafft, den Plänen zu folgen.

„Die Lichtaugen sehen aus wie riesige Trinkkelche“

Auf der Dachterrasse geriet Bauer mit Blick auf den Bau der verglasten Öffnungen ins Schwärmen. 28 Lichtaugen auf Kelchstützen wird es geben. Sie sind jeweils 200 Quadratmeter groß. „Da sieht man, wie hell es an den Gleisen sein wird“, freute sich der Vereinsvorsitzende. Dem Künstler Romulo Kuranyi, einem der geladenen Gäste, fiel bei der Winetime gleich ein, was man damit machen könnte: „Die Lichtaugen sehen aus wie riesige Trinkkelche. Man sollte sie mit Wein füllen.“ Jens Zimmermann, Moderator des wirtuellen Weindorfs, dessen Streaming täglich auf dem roten Turm übertragen wird, fand auf den Plänen die neuen Fenster mit den Rundbögen, die am Hauptbahnhof entstehen sollen, sehr gelungen.

Franzosen hamstern Wein und Kondome

Jungwinzer Thomas Diehl, der mit seinen Eltern den Wein ausgeschenkt hat, berichtete, wie er auf die Idee kam, einen Hamsterwein auf den Markt zu bringen: „Ein Freund sagte zu Beginn der Pandemie, das sei typisch Deutsch, dass man bei uns Klopapier hamstert, während sich die Franzosen mit Wein und Kondomen eindecken.“ Mit einem deutschen Hamsterwein wollte er „für ein bisschen Leichtigkeit und Spaß“ in schwerer Zeit sorgen. Seine Idee hat voll eingeschlagen mit Bestellungen aus allen Teilen Deutschlands.

Wo sonst noch der Wein gefeiert wird

Das wirtuelle Weindorf wird aus einer Laube vor der Alten Kanzlei ausgestrahlt, wo man die vorgestellten Weine auf der Terrasse probieren kann. Weitere „Außenstellen“ des Weindorfs mit zum Teil extra aufgebauten Lauben sind das die Zaisserei, das Restaurant Stuttgarter Stäffele von Michael Wilhelmer, der Weinhof Helmut Zaiß mit Besenwirtschaft, der Sommerbesen von Tilmann Ruoff, der Löwen in Uhlbach mit einem besonderen Weindorf-Menü und Beflaggung. Der Wein ist in Stuttgart also auch im Corona-Sommer willkommen!