Der grüne Wahlsieger Winfried Kretschmann verspricht einen neuen Politikstil im Land. Die erste Bewährungsprobe steht schon an: Stuttgart 21.    

Stuttgart - Sie warten und frieren. Die Kamerateams, Fotografen und Reporter belagern an diesem kühlen Frühlingsmorgen die Berliner Parteizentrale der Grünen. "Ist er das?", ruft jemand kurz vor zehn, als sich ein Mann in Mantel und Hut dem Gebäude nähert. Der Pulk gerät in Bewegung, stürzt erwartungsvoll auf den Hochgewachsenen zu und - wird enttäuscht, es ist der Falsche. Denn alle warten auf einen: Winfried Kretschmann, der neue Star aus dem Schwabenland, der Mann, der die Revolution der Grünen im bodenständigen Südwesten angeführt hat.

 

Gegen halb elf kommt ein Taxi angerollt - kein Audi, kein Mercedes, sondern ein VW. Noch ist Kretschmann nicht Ministerpräsident, dem es zusteht, in einer Staatskarosse einschließlich Leibwächtern vorgefahren zu werden. Der 62-Jährige mit der frühlingsgrünen Krawatte nimmt den Hintereingang in die Parteizentrale, hält sein Handy ans Ohr.

Er kommt nicht allein, auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer und Rudi Hoogvliet, Vorstandsreferent der Grünen-Fraktion im Stuttgarter Landtag, sind mit von der Partie. Mit wem er eben telefoniert habe, will ein Reporter von Kretschmann wissen. "Mit Frau Merkel." Was die Kanzlerin habe wissen wollen, hakt der Reporter nach. "Sag ich nicht", erwidert der designierte Landeschef und fängt an zu lachen. "Das war ein Witz."

Kretschmann will den hohen Erwartungen der Bürger gerecht werden

Genauso beschwingt ist die Stimmung oben im Sitzungssaal, wo der Wahlsieger stürmisch empfangen wird. Die Mitglieder des Bundesvorstands und des Parteirats erheben sich von ihren Plätzen, applaudieren ihrem Stuttgarter Parteifreund, es gibt Blumen. Der 27. März 2011 sei ein Tag, den man sich im Kalender anstreichen müsse, sagt Grünen-Chef Cem Özdemir zur Begrüßung: "Davon werden wir noch unseren Kindern und Kindeskindern erzählen."

Die Folgen des Machtwechsels in Baden-Württemberg werden sich erst nach und nach abzeichnen, wohin der neue Politikstil und der angekündigte Weg in die Bürgergesellschaft genau führen wird, ist noch nicht absehbar. Dass eine schwere Aufgabe auf Kretschmann und die Grünen wartet, daran lässt der Wahlsieger keinen Zweifel. Nun beginne eine neue Phase, "wir müssen jetzt führen", sagt der Mann, der bisher immer auf der Oppositionsbank saß. Und die Partei, so Kretschmann, müsse den sehr hohen Erwartungen der Bürger verantwortlich gerecht werden.

Wie ein Anti-Mappus kommt der neue Landeschef daher, zurückhaltend, bescheiden, defensiv: "Wir werden versuchen, dieses Land mit Besonnenheit, Maß und Mitte zu führen", sagt der bald erste Ministerpräsident in der Geschichte der Grünen. Er stapelt tief, nimmt es fast als selbstverständlich, dass er das Ergebnis seiner Partei bei der Landtagswahl glatt verdoppelt und der Dauerherrschaft der CDU gemeinsam mit der SPD ein Ende gesetzt hat.

Vom Rednerpult weggezerrt

Zurück in Stuttgart präsentiert sich Winfried Kretschmann als ein stiller Sieger. Er spart nicht mit leiser Ironie. Der Mann, dessen Gesicht häufig das Leid der Welt widerspiegelt, lächelt unentwegt. "Ich komme aus Berlin, habe dort gute Wünsche abgeholt", berichtet er mit einem Schmunzeln. Die Reise nach Berlin brachte Genugtuung. Kretschmann und die Bundespartei liegen nicht immer auf einer Linie, und Kretschmann ist einer, der seine Kritik offen äußert.

Parteitagsbeschlüsse boten dem Realo mehr als einmal Anlass zur Interpretation. Votierte die Bundespartei gegen schwarz-grüne Möglichkeiten, sah Kretschmann Spielraum für die Auslegung des Votums. Von Doppelspitzen hält er so wenig wie von der Trennung von Amt und Mandat. Das verkraftet die grüne Seele schwer.

Einmal in den achtziger Jahren, zerrten sie ihn quasi vom Rednerpult, da sprach er sich gegen die Frauenquote aus. Als die Grünen im Land ihren dreißigsten Geburtstag feierten und sich in Lobeshymnen ergingen, stand Kretschmann mit verschränkten Armen da und erinnerte sich: "Was die Krachfundis mich schon alles geheißen haben, geht auf keine Kuhhaut."

Kretschmann überzeugt mit seinem Wertefundament

Zweimal nahm das Gründungsmitglied sich eine Auszeit von den Grünen. Dass er jetzt der designierte Ministerpräsident ist, ist eine späte Genugtuung. 2002 kurz vor seinem 54. Geburtstag folgte er dem smarten zehn Jahre jüngeren Dieter Salomon als Vorsitzender der Landtagsfraktion und musste sich fragen lassen, ob er nicht ein Auslaufmodell, allenfalls eine Übergangslösung sei.

Der konterte zwar selbstbewusst, "ich habe nicht das Gefühl, dass mir der Zement aus den Hosen rieselt", aber dass er Spitzenkandidat bei der Landtagswahl 2005 werden könnte, das bezweifelten doch viele. Den kommenden Mann der Grünen hatten sich viele jünger vorgestellt.

Es erforderte viel Überzeugungsarbeit der Landesvorsitzenden Andreas Braun und Sylvia Kotting-Uhl, Kretschmann vor allem dem linken Flügel zu vermitteln. Schon damals verschaffte sein Wertefundament Kretschmann die notwendige Überzeugungskraft. Werte wiegen heute möglicherweise noch schwerer.

Ein unerschütterliches Staats- und Demokratieverständnis

Anständigkeit ist das am meisten genannte Attribut, wenn Parteifreunde sich zu ihrem neuen Aushängeschild äußern. Doch der ausgeprägte eigene Kopf - "ein Oberschwabe halt" - und eine natürliche Distanz, machen den Kreis der Vertrauten Kretschmanns übersichtlich. Seilschaften passen nicht zu Kretschmann.

Die Party ist vorbei - jetzt wartet die Arbeit

Er hat ein unerschütterliches Staats- und Demokratieverständnis, das lässt den Sieger am Tag nach der Wahl gelassen in die Zukunft blicken. Ob denn ein Stimmenanteil von 25 Prozent als Legitimation für den Ministerpräsidenten ausreiche, wird er gefragt, und seine Antwort fällt grundsätzlich aus. "Der Ministerpräsident ist legitimiert, wenn er durch den Landtag gewählt ist. Das hat mit der Stärke der Partei nichts zu tun."

Schon ehe er sein Amt antritt, erscheint Kretschmann ein wenig überparteilich. "Ich werde im Interesse des Landes das Amt ausfüllen", sagt er und ist als Wertkonservativer ganz nah bei seinem Vorvorvorgänger Erwin Teufel. "Erst das Land, dann die Partei, dann die Person" - das hielt der Spaichinger Teufel für die richtige Reihenfolge.

Kretschmann scheint in der Rolle des Regierenden angekommen

Diese Einschätzung teilt der gebürtige Spaichinger Kretschmann. "Es ist mir schon bewusst, dass die CDU im Land eine sehr starke Partei ist", legt er lächelnd dar. "Ich werde das berücksichtigen, in der Art wie ich regiere." Der ernste Zug kehrt in Kretschmanns Miene zurück, als er ankündigt: "Wenn die CDU konstruktive Opposition macht, werden wir sie nicht so behandeln wie sie uns." Da spricht die verletzte Seele. Der künftige Regierungschef sagt, "da wird ein anderer Stil einziehen. Das kann ich Ihnen versichern".

Nach 30 Jahren in der Opposition scheint Kretschmann schon in der Rolle des Regierenden angekommen zu sein. "Wir geben nun selber den Takt an." Das wird kein Spaziergang, das erwartet Kretschmann auch nicht: "Ich bin noch nie davon ausgegangen, dass Regieren komfortabel ist", sagt er. Man muss sich mit dem Koalitionspartner einigen.

Bei ihrer Wahlparty am Sonntagabend haben die Grünen den Spitzenkandidaten der SPD noch mit "Nils, Nils"-Rufen begrüßt, doch jetzt ist die Party vorbei, und Kretschmann ist wie angekündigt zur Arbeit übergegangen. "Es gibt Schwierigkeiten mit jedem Koalitionspartner", sagt er. Das "dickste Problem ist S 21".

Da verlässt sich der Politiker auf Verhandlungen. Auch in den Ministerien, in denen fast 58 Jahre CDU-Regierung die Strukturen geprägt haben, könnte es unkomfortabel werden. Da verlässt sich der künftige Regierungschef darauf, dass die Beamten so staatstreu sind wie er selber: "Ich habe keine Zweifel daran, dass die baden-württembergische Verwaltung loyal zu ihrer Regierung steht.

Der Kreis der Freunde und Vertrauten

Uschi Eid, die engste Vertraute aus Nürtinger Tagen

Uschi Eid ist Winfried Kretschmann seit Jahrzehnten verbunden. Der Nürtinger Landtagsabgeordnete und die langjährige Nürtinger Bundestagsabgeordnete zählen beide zum Lager der Realos. Beide halten Glaubwürdigkeit und Seriosität für entscheidende Pfeiler der politischen Arbeit.

Die frühere Afrikabeauftragte des Bundeskanzlers und Staatssekretärin im Entwicklungshilfeministerium schied 2009 aus dem Bundestag aus. Sie strebt zwar vermutlich nicht in die Landespolitik, gilt aber als die wohl engste Vertraute Kretschmanns. Die 61-Jährige wird sicher in die Entscheidungen einbezogen, heißt es in Parteikreisen.

Andreas Braun, Weggefährte aus dem Landesvorstand

Andreas Braun, der langjährige Landesvorsitzende der Grünen, hat einen guten Draht zum möglichen neuen Ministerpräsidenten. Der 47-jährige Theologe aus Backnang leitet seit 2005 die Stabsstelle Kommunikation im Klinikum Stuttgart. Braun stand von 1999 bis Ende 2006 an der Spitze des Grünen-Landesverbandes. So lange konnte sich deutschlandweit niemand als Landesvorsitzender der Grünen halten.

Er kennt die Partei bestens. Auch nach 2006, als Braun sich aus familiären Gründen aus der Parteispitze zurückzog, hielt er den Kontakt zu Kretschmann. "Kretschmann sucht ständig seinen Rat", wissen Insider.

Rudi Hoogvliet, der Mann für die Öffentlichkeit

Der gebürtige Holländer ist eine graue Eminenz in der Partei. Rudi Hoogvliet war früher ein Vertrauter von Fritz Kuhn, was in Kretschmanns Augen nicht unbedingt als Empfehlung gelten muss. Der Pädagoge und Politikwissenschaftler war bei den drei vergangenen Bundestagswahlen Wahlkampfmanager der Bundespartei in Berlin. Aber er kehrt stets wieder nach Stuttgart zurück.

Er ist der Vorstandsreferent für die Öffentlichkeitsarbeit der Landtagsfraktion. "Von Rudi Hoogvliet lässt er sich was sagen", wissen die Parteifreunde Kretschmanns. Der Mann könnte neuer Regierungssprecher werden.