Der landespolitische Publikumsliebling lässt unerwartet Schwächen erkennen. Dabei wollen die Grünen ihren Landtagswahlkampf ganz auf den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zuschneiden. Was liegt im Argen bei Grün-Rot?

Stuttgart - Ein Fehler zieht den nächsten nach sich. Das weiß jetzt auch Winfried Kretschmann, der grün-rote Übervater, der sich seit seiner überraschenden Selbstfindung als Ministerpräsident vor drei Jahren mit traumwandlerischer Sicherheit zum landespolitischen Publikumsliebling entwickelt hat.

 

Doch jetzt hat er zwei Mal gepatzt. Zunächst, als er die Solonummer des Finanzministers Nils Schmid (SPD), bereits 2016 und nicht erst 2020 einen schuldenfreien Etat vorzulegen, mit wochenlangem Beleidigtsein sowie mit Entscheidungsunlust quittierte. Und nun aufs Neue, als er einen Gesetzentwurf von Sozialministerin Karin Altpeter (SPD) zur Gleichstellung von behinderten Menschen kurz vor knapp von der Tagesordnung des Kabinetts nahm. „Ob eine Kabinettsvorlage beschlussreif ist, entscheide nun mal ich“, verkündete er hernach vor der Presse. Als Revanchefoul für die als Nötigung empfundene, weil unabgesprochene Nullverschuldungsinitiative Schmids wollte er sein Veto aber nicht verstanden wissen.

Dümmste Form des Racheakts

Damit dringt er jedoch nur bedingt durch. Kretschmann darf man zwar abnehmen, dass er Bürokratieaufbau grundsätzlich nicht schätzt – und darum handelt es sich bei der Schaffung von hauptamtlichen Behindertenbeauftragten, so wichtig das dem Vorhaben innewohnende gesellschaftspolitische Anliegen auch sein mag. Doch allzu gekränkt hatte sich der Regierungschef zuvor über Schmid und dessen Alleingang ausgelassen. „Wenn man fünf Wochen von Vertrauenskrise spricht“, sagt ein Genosse, „braucht man sich nicht zu wundern, wenn das jetzt als Vergeltung interpretiert wird.“ Zumal ja bereits Mutmaßungen angestellt worden waren, welchen sozialdemokratischen Schmerzpunkt Kretschmann und die Seinen sich aussuchen würden, um Schmid die erlittene Niederlage heimzuzahlen. Die Antwort: Katrin Altpeter und ihr Behindertengesetz.

Oder doch nicht? Zweifel keimen sogar bei den Sozialdemokraten. „Das wäre schon die dümmste Variante eines Racheakts“, heißt es in deren Reihen. „Machtpolitik auf den Rücken von Behinderten“ – das komme gar nicht gut an und schade beiden Regierungsparteien. Das Presseecho bestätigt den Befund: Es fiel – gemessen an den zarten Pastellgemälden, die Winfried Kretschmann bisher gewohnt war – ziemlich wüst aus.

Die Botschaft heißt Kretschmann

Für die Grünen ist das, sollten sich die Patzer verstetigen, brandgefährlich. Schließlich ruht deren gesamte Wahlkampfstrategie auf nur einer Kernbotschaft: Winfried Kretschmann muss Ministerpräsident bleiben. Die Partei weiß, dass sie ohne Kretschmann oder mit einem entzauberten Kretschmann nicht über die 20-Prozent-Marke hinauskäme. Natürlich wollen die Parteistrategen ein Wahlprogramm vorlegen, selbstverständlich sollen die grünen Erfolge der Regierungspolitik gefeiert werden. Doch im Mittelpunkt der Kampagne wird Kretschmann stehen, der erste Ministerpräsident, dem es nach Erwin Teufel wieder gelang, als Landesvater wahrgenommen zu werden. Dazwischen kamen Günther Oettinger, der bei aller Leidenschaft für die Politik zu oft als Tollpatsch belächelt wurde, und Stefan Mappus, den die CDU am liebsten dem Vergessen anheim gäbe.

Polyzentrische Regierungszentrale

An Erwin Teufel fühlen sich inzwischen immer mehr Beobachter des Kretschmannschen Regierungsschaffens erinnert. Und das, obwohl sich der Grüne nicht mehr gar so häufig aus Teufels Zitatenkästchen bedient wie noch in seinen Anfängen.

Etwa mit der Beschwörung von „Maß und Mitte“ oder der Politik, die „mit dem Betrachten der Wirklichkeit beginnt“ – Letzteres eigentlich ein Kurt-Schumacher-Zitat. Mit Teufel verbindet Kretschmann die Hinwendung zu einsamen Entscheidungen, zum Sinnieren im Grundsätzlichen und eine gewisse Sperrigkeit bei Druck von außen. Teufels paternalistische Ausstrahlung ahmt Kretschmann bewusst oder auch unbewusst nach, nur dessen Sicherheit in der Machtaneignung und Machtausübung ist ihm ein – noch unerreichtes – Ziel. Daher kommt wohl Kretschmanns Anspruch, auch nach umfassenden Abstimmungsprozessen einen Gesetzentwurf kurzfristig zu stoppen. Nur: in einer Koalition unter Gleichen kann der Regierungschef nicht als Pater familias unumschränkt agieren, er ist nur Primus inter pares. So lange Kretschmann das nicht akzeptiert, drohen weitere Pannen.

Ein anderes Problem erkennen Koalitionäre im Staatsministerium, dessen Amtschef Klaus-Peter Murawski allzu selbstherrlich agiere. Der von Kretschmann über die Maßen gelobte Staatssekretäre zelebriere sich selbst, statt seiner eigentlichen Aufgabe nachzugehen, die darin bestehe, eine reibungslose Zusammenarbeit mit den Einzelressorts sicherzustellen. Auch habe die gegenseitige Abneigung zwischen Murawski und Staatsministerin Silke Krebs (beide sind Grüne) in der Regierungszentrale ein „polyzentrisches System“ entstehen lassen, welches die Entscheidungsfindung nicht erleichtere. Noch können diese Nickeligkeiten Kretschmanns Popularität nicht ernsthaft beeinträchtigen. Ist die Stimmung aber erst einmal gekippt, lässt sich das vor der Landtagswahl kaum mehr reparieren.