Der Ministerpräsident Winfried Kretschmann inszeniert sich als Biedermann. Aber er weiß mit der Macht etwas anzufangen. Eine Bilanz zum Jahresende.

Stuttgart - Als Winfried Kretschmann (Grüne) Ende November in Berlin als "Politiker des Jahres" geehrt wurde, da nannte ihn sein Laudator Thomas Schmid "eine Art Alien in der Sphäre der Politik".

 

Ein Alien kann ausweislich des Oxford English Dictionary erstens ein Fremder sein ("belonging to a foreign country or nation"), zweitens ein Außerirdischer ("a hypothetical or fictional being from another world"), jedenfalls ein Wesen, das im eigentlichen Sinn auf Dauer nicht dort hingehört, wo es sich gerade aufhält.

Thomas Schmid waren in jungen Jahren dem "revolutionären Kampf" verpflichtet gewesen, später ging er zu den Grünen, bei denen er Kretschmann über den Weg lief. Beide zählten zum ökolibertären, also rechten Flügel der Partei. Die Ökolibertären, als deren Cheftheoretiker Schmid fungierte, fristeten bei den Grünen freilich ein eher extraterrestrisches Dasein. Heute gibt Thomas Schmid für den Springer Verlag die Tageszeitung "Welt" und deren Geschwisterblätter heraus. Aliens mag er auf seinem langen Weg vielen begegnet sein und mitunter sich auch also solcher gefühlt haben.

Kretschmann meint, was er sagt

Bemerkenswert an Schmids Alien-Bonmot bei der Ehrung Kretschmanns als "Politiker des Jahres" war freilich anderes. Dem Stuttgarter Regierungschef maß er in seiner Laudatio folgende Eigenschaften zu: Kretschmann ist gradlinig, denn in der Regel meint er, was er sagt. Kretschmann ist bescheiden, aber dennoch selbstbewusst. Kretschmann sagt nicht immer das, was seiner Partei gefällt. Außerdem hegt er tiefe Überzeugungen, von denen er auch umständehalber nicht ablässt. Kretschmann ist beharrlich, ein sturer Arbeiter im Weinberg des Herrn. "Mit Wucht gibt er immer wieder Sätze von sich, die gravitätisch wie gewaltige Hinkelsteine oder Mahnmale erdenschwer in der Landschaft stehen."

Gesetzt, Thomas Schmid hätte recht und ein Politiker wie Kretschmann wäre also ein Alien in der deutschen Politik, stünde es ziemlich bedenklich um dieselbe. Denn was erwartet der Bürger anderes, als dass die Politiker in der Regel meinen, was sie sagen, auch wenn es deren Partei umständehalber nicht immer gefällt? Richtig ist, dass nicht jede Erwartung erfüllt wird. Horst Seehofer (CSU) zum Beispiel, der bayerische Ministerpräsident, erweckt sehr häufig den Eindruck, als wäre er selbst überrascht, was er alles sagen konnte, wo er doch am Tag vorher noch behauptet hatte, so etwas käme nie über seine Lippen.

Angenommen, Kretschmann lässt sich anders als Seehofer beim Wort nehmen, dann müssen sich die Baden-Württemberger darauf einstellen, dass eines schönen Tages einer ihrer schönen Landstriche tatsächlich für ein Atomendlager in die engere Wahl genommen wird. Dann sollten sich die Staatsdiener auf Stellenstreichungen und Einsparungen vorbereiten, weil der Stuttgarter Ministerpräsident sagt, dass bei einem Personalkostenanteil von 40 Prozent im Landesetat anders die Schuldenbremse nicht einzuhalten ist. Dann können sich Eltern, Lehrer und Schüler auf den Abschied vom dreigliedrigen Schulsystem einrichten.

Bereits zur Kultfigur erhoben

Regierende, die meinen, was sie sagen, sind ganz schön anstrengend. Sie machen sich damit auch nicht unbedingt beliebt. Winfried Kretschmann jedoch ist, davon künden die Umfragen, sieben Monate nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten außerordentlich beliebt. Er war noch gar nicht allzu lange im Amt, da erhob ihn Günther Oettinger, sein Vorvorgänger, bereits zur Kultfigur. Hans-Georg Wehling, der Altmeister der neueren Landesgeschichte, bezeichnete ihn als "Lichtgestalt". Und sogar CDU-Landeschef Thomas Strobl sprach gelegentlich vom "Landesbischof" Kretschmann, was zwar nicht rundum positiv gemeint war, eher ein wenig abschätzig klingen sollte, aber zumindest unfreiwillig darauf hinwies, dass da kein durchschnittlicher Politiker in der Villa Reitzenstein regiert. Zumindest ein interessanter. Wenn das Lob zu viel wird, dann sagt Kretschmann auch außerhalb der Karwoche: "Weil ich Christ bin, weiß ich, dass zwischen ,Hosianna' und ,Kreuzigt ihn' nur ein paar Tage liegen können."

Die "Frankfurter Allgemeine" bemerkte im Vorfeld des Volksentscheids über Stuttgart 21 treffend, der neue Ministerpräsident verfüge über einen Startvorteil: "Kretschmann hilft das geistige Vakuum, das sein Vorgänger hinterlassen hat." Der neue Regierungschef füllt dieses Vakuum auf unterschiedliche Weise. Äußerlich erkennbar ist das etwa in der Unerbittlichkeit, in der Kretschmann seine kleinen und großen Reden mit klassischen Zitaten schmückt. Nur Erwin Teufel kam ihm darin gleich. Perikles folgt auf Aristoteles, auch Sokrates kommt zu Wort. Greift Kretschmann zur Abwechslung ins lateinische Zitatenkästlein, wird dies in der Grünen-Fraktion als rhetorischer Paradigmenwechsel ironisiert. So kommt Leichtigkeit ins trockene Geschäft der Landespolitik. Es ist auch eine Prise Koketterie dabei, wenn Kretschmann über römisches Recht oder den Satzbau im Altgriechischen doziert. Aber ebenso steckt intellektuelles Format dahinter, wie man es an der Regierungsspitze lange vermisst hat. Man kann auch sagen: mit Kretschmann haben Stil und innere Haltung zurück ins Staatsministerium gefunden.

Ohne Macht ist Politik nicht möglich

Anders als seinem Vorgänger Stefan Mappus, den bei allem konservativen Gebaren eine inhaltliche Beliebigkeit umgab, geht es Kretschmann nicht allein um Macht. Aber schon auch um Macht. Kretschmann weiß das hinter biederer Miene zu verbergen. Ohne Macht ist Politik nicht möglich. Mit Behagen erzählt Kretschmann von seinem Beitrag zur Energiewende, als die Ministerpräsidenten mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) über die Vorgehensweise beim Atomausstieg berieten. Er schloss ein Bündnis mit seinem bayerischen Kollegen, und am Ende blieb Seehofer nichts anderes übrig, als zu Protokoll zu geben: "Mein Vorredner (Kretschmann) kann nicht für Bayern sprechen, aber er hat wie Bayern gesprochen." Die Folge war, dass - wie von Kretschmann gewünscht - der Atomausstieg gestaffelt vollzogen wird. Ursprünglich hatte die Bundesregierung geplant, die jüngeren Atommeiler bis 2021/2022 laufen zu lassen. "Dann wäre zehn Jahre nichts für die Energiewende getan worden", sagt Kretschmann.

Auch mit dem Vorstoß zu Gunsten eines neuen Suchlaufs für ein Atomendlager reüssierte Kretschmann bundespolitisch. Im Nachhinein sagt er: "Dass ich da so stark mitwirken konnte, hat mich schon beflügelt." Ein Kenner der Berliner Szene zieht den Vergleich mit Mappus: "Die Ausstrahlung ist schon eine 180-prozentig andere." Offener sei Kretschmann, unverstellter - und auch das: freundlicher. Nicht einmal die Niederlage bei der Volksabstimmung vermochte ihn ernsthaft zu beschädigen.

Kretschmann sieht sich in einer "Energiemulde"

2000 Terminanfragen gehen in seinem Büro ein, mitunter auch mehr - pro Monat. Günther Oettinger hatte er einst gescholten, er renne von Heckenbeerlesfest zu Heckenbeerlesfest, weshalb er nicht mehr zum Nachdenken komme. Inzwischen sagt Kretschmann: "Da muss ich Abbitte leisten." Als Regierungschef hat er nicht nur mit dem Steuergeld zu haushalten, sondern auch mit seiner Zeit. Den Kniff hat er noch nicht raus. Jetzt, nach einem Jahr voller Anstrengungen, sieht sich Kretschmann in einer "Energiemulde". Zu Dreikönig unterzieht er sich deshalb, wie jedes Jahr, Exerzitien im Kloster Maria Laach in der Eifel. Es ist ein besonderer Kurs für Politiker. Innere Einkehr, romanische Architektur, die Teilnahme an der Liturgie des Klosters und eine, wie Kretschmann sich so unverwechselbar ausdrückt, "schöne Gregorianik" erwarten ihn.

Ein Alien ist Kretschmann deshalb nicht. Ein bisschen anders ist er schon. Kein Parteikarrierist und kein Blender. Wenn Steven Spielbergs E.T. in den Nachhimmel blickt, dann sagt er sehnsuchtsvoll: "Nach Hause telefonieren." Winfried Kretschmann sagt, noch keinen Tag habe er bereut, Ministerpräsident zu sein.