Stuttgart 21 war das bestimmende Thema bei "StZ im Gespräch" mit Winfried Kretschmann. Doch auch das Schulsystem missfällt dem Ministerpräsidenten.

Stuttgart - Das ist er also, der Neue. Winfried Kretschmann, Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident. 600 Leser der Stuttgarter Zeitung hatten sich einen Platz in der Alten Reithalle beim "StZ im Gespräch" gesichert und nutzten die Gelegenheit, den seit vier Wochen amtierenden Regierungschef aus der Nähe betrachten zu können. Und das taten sie. Ausgiebig.

 

Für die einen, die sich Politik und Politiker aufgeschlossener, gradliniger, einfach anders wünschen, ist Kretschmann der Hoffnungsträger, der die Bürger in ihren Anliegen endlich Ernst zu nehmen verspricht. Für andere, mittelständische Tüftler etwa, die sich bisher als Motoren des Fortschritts fühlten und sich nun vorkommen, als müssten sie alles anders machen, ist er zumindest gewöhnungsbedürftig.

Beide Lager waren an dem Abend vertreten und Kretschmann ist zugute zu halten, dass er keine Seite richtig verprellt. Mit seiner unorthodoxen Art zu reden - "Ich bin ein Mensch mit kurvenreicher Biografie; ich habe mich immer strebend bemüht, jetzt bin ich halt im Staatsministerium" - bringt er die Zuhörer zum Schmunzeln. Er wirkt nicht wie ein Kunstprodukt, sondern wie ein Original. Das erzeugt Respekt. Auch wenn er sagt: "Ja, wir werden uns im Bundesrat für die Erhöhung der Spitzensteuersätze und die Wiedereinführung der Vermögensteuer einsetzen", und das dem in die Progressionsfalle tappenden Nicht-Schlecht-Verdiener missfällt. "Dafür lebt er in einem wohlgeordneten Gemeinwesen."

So etwas macht offenbar neugierig. Nach dem offiziellen Teil der Veranstaltung bildet sich eine Traube von Fragern und Zuhörern, die es noch genauer wissen wollen, um den Ministerpräsidenten herum. Kretschmann bleibt länger, als er angekündigt hatte. "Eine lebendige Veranstaltung" sei es gewesen, sagt er danach.

Die Sache mit den Autos

Der Spitzen-Grüne wird seine Botschaften los. Die Sache mit den Autos zum Beispiel: "Weniger Autos sind natürlich besser als mehr", hatte Kretschmann in einem Interview verlauten lassen und damit im Autoland Baden-Württemberg höchste Aufmerksamkeitsquoten erzielt. "Das haben wir doch schon tausend Mal gesagt", versuchte er in der Reithalle den Effekt dieser Aussage zu relativieren. "Es geht um andere Autos, um eine andere Mobilität", so Kretschmann - am Freitag nehmen er und Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) übrigens zwei Mercedes-Elektrofahrzeuge für den Fuhrpark des Landes in Empfang.

Dass er industriefeindlich sei, "ist Blödsinn". "Ich bin kein verkappter Anhänger eines verspäteten Morgenthau-Planes" - die Idee des US-Finanzministers Henry Morgenthau, der 1944 Deutschland deindustrialisieren und in ein Agrarland verwandeln wollte, damit aber nicht zum Zuge kam.

Wenn schon, dann müsste aus Baden-Württemberg eine Art Software-Land werden. Modernität, soll lässt Kretschmann anklingen, werde durch Ideen und Konzepte definiert, nicht durch Bagger und Beton. "Es kommt darauf an, den Blick auf die Software zu richten." Klotzen statt kleckern sei ein "überholtes Modernitätsmodell". Das zielt auf Stuttgart 21.

Kretschmann würde es als Erfolg betrachten, könnte er dieses Vorhaben verhindern - und erhält dafür Applaus von etwa zwei Dritteln des Saales. Das andere Drittel spendet Beifall, als er sagt, "wir werden das bauen", wenn der Volksentscheid es die Regierung so heißt. Dass die Volksabstimmung vorgezogen wird, wie es ein Zuhörer vorschlägt (die Bahn sei der Regierung mit dem Baustopp bis Mitte Juli ja auch entgegen gekommen), sieht Kretschmann nicht. Schon das Ziel Oktober sei "höchst ambitioniert".

Eine Lehre aus den heißen politischen Diskussionen um das Bahnprojekt ist für Kretschmann, "Schluss zu machen mit der Basta-Politik". Es müsse gelingen, der Bürgergesellschaft einen Zugang zur Politik zu verschaffen, wie starke Interessengruppen ihn bereits jetzt haben. "Dann sind wir schon einen Schritt weiter".

Den Bürgern einen Zugang zur Politik verschaffen

Im - anders verstanden - modernen Baden-Württemberg tut sich auch etwas im Schulsystem, was einige Gäste beunruhigt, auch Gerhard Mayer-Vorfelder, der als Kultusminister dereinst die CDU-Bildungspolitik verkörperte und sein Missfallen gegenüber der von Grün-Rot propagierten Gemeinschaftsschule bekundet.

"Da müssen Sie sich keine Sorgen machen", antwortet der neue Landesvater. "Wir machen nichts, was nicht irgendwo auf der Welt schon erprobt wurde." Denn: "Das Schulsystem ist nicht so gut, wie Sie glauben." Der Bildungserfolg sei stark abhängig von der sozialen Herkunft und das "verstößt gegen die Landesverfassung". Die Gemeinschaftsschule komme dort, "wo das gewünscht wird". Und auch dort müssten die geltenden Standards erfüllt werden, erklärt Kretschmann. "Wir ändern die Schulstrukturen behutsam und vorsichtig, dass wir das begleiten können; und wir nehmen auch Ihre Sorgen mit."