Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wirft der FDP vor, das Parteiinteresse vor die Interessen des Landes gestellt zu haben – und rechnet weiter mit Angela Merkel.

Politik/Baden-Württemberg: Rainer Pörtner (pö)

Stuttgart - Die Jamaika-Verhandlungen sind zwar gescheitert, aber in den Augen von Winfried Kretschmann haben sie Union und Grüne zueinander geführt. Ein Gespräch mit dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten über liberale Verweigerer, schwarz-grüne Vertrauensbildung und die Zukunft von Angela Merkel.

 
Herr Kretschmann, vor knapp zwei Wochen haben Sie gemeinsam mit dem CDU-Landeschef Thomas Strobl in einem Interview mit unserer Zeitung eindringlich vor einem Scheitern der Jamaika-Sondierungen gewarnt. Warum hat die Mahnung nicht verfangen?
Sie hat schon verfangen, nur nicht bei allen. Ich hatte den Eindruck, dass die Unionsparteien das genau so gesehen haben. Die CDU von Anfang an und die CSU jedenfalls zum Schluss. Den Grünen und der Union war klar, dass man sich aus gesellschaftspolitischer, staatspolitischer und europäischer Verantwortung zusammenraufen muss. Bei der FDP habe ich das leider nicht so gespürt.
Betreiben Sie hier nicht Legendenbildung, dass allein die FDP Schuld sei am Scheitern? Auch mit der CSU waren die Grünen nach vier Wochen uneins – etwa beim Thema Zuwanderung.
Wir waren ganz, ganz nahe dran an einer Einigung – auch beim Thema Flüchtlinge. Das macht es ja so bitter. Vor der letzten Sondierungsrunde haben wir Grünen noch einmal brutal eigene Positionen abgeräumt. Wir haben auf Dinge verzichtet, die uns wirklich wichtig waren – und gleichzeitig Angebote gemacht für die anderen Parteien, zum Beispiel beim Abbau des Solidaritätszuschlags für die FDP und der Mütterrente bei der CSU.
Welches Kalkül vermuten Sie hinter dem Ausmarsch der FDP aus der Sondierungsrunde?
Jeder hat natürlich das Recht, eine solche Koalition nicht einzugehen. Es geht aber immer darum, wie sehr man Parteiinteressen gewichtet im Verhältnis zu möglichen Gefahren für Deutschland und Europa. Die FDP war in einem Hochgefühl, weil sie nach Jahren der Niederlagen wieder mit einem starken Ergebnis in den Bundestag eingezogen ist. Nun sollte sie harte Kompromisse eingehen – und das wollte sie nicht. Vielleicht aus Angst, dafür bei der nächsten Wahl abgestraft zu werden. Sie hat das Parteiinteresse vor die Interessen des Landes gestellt.
Haben die Liberalen Selbstmord begangen aus Angst vor dem Tod?
So drastisch würde ich es nicht formulieren. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie Jamaika nie wirklich wollten. Der Kollege Rülke, FDP-Fraktionschef in Baden-Württemberg, hat im September gesagt, dass die Grünen ihr Parteiprogramm einstampfen müssten, damit Jamaika möglich wird. Mit solchen Sprüchen zeigt man, dass man nicht wirklich will.
Die Grünen und die Union haben sich nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierung wechselseitig über den grünen Klee gelobt. Ist da ein neues Klima entstanden?
Das kann man schon sagen. Wir in Baden-Württemberg haben das ja schon, aber hier ist auch auf Bundesebene ein Klima des Vertrauens entstanden. Das Argument, das wir ständig hören, dass sich die Parteien nicht mehr unterscheiden würden, ist Geschwätz. Man merkt in solchen Verhandlungen, wie verschieden die Parteien sind. Wenn man aber Vertrauen zueinander gewinnt, dann ist man kompromissfähig. Nur darum geht es. Dieses Vertrauen hat sich in dem Prozess gebildet: die CSU natürlich härter auftretend, die CDU mit der Kanzlerin an der Spitze sehr vermittelnd.
Wie groß ist jetzt der Schaden für Deutschland und Europa?
Der Schaden ist groß. Deutschland war immer Hort der Stabilität in Europa. Jetzt müssen wir aufpassen, dass dieser Stabilitätsanker nicht rausgerissen wird. Das geht nur, wenn wir schnell eine handlungsfähige Regierung bekommen.
Der Bundespräsident hat die Parteien aufgerufen, noch einmal in sich zu gehen und an ihre staatspolitische Verantwortung zu denken. Halten Sie es für möglich, dass die SPD doch noch über ihren Schatten springt und in eine große Koalition geht?
Ich glaube, das Thema ist durch. Aber warten wir ab, welche Dynamik der Bundespräsident nun auslöst.
Um die SPD doch noch zu gewinnen, wäre es vielleicht hilfreich, wenn Angela Merkel erklären würde, dass sie nicht wieder Kanzlerin werden will.
Das kann ich mir mal gar nicht vorstellen. Das würde ja dramatische Diskussionen in der Union über die Nachfolge auslösen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass da in der Union eine große Kanzlerinnendebatte ausgebrochen ist. Sie macht auf mich weiterhin einen starken Eindruck.
Bliebe immer noch die Möglichkeit einer Minderheitsregierung.
Wir haben für ein solches Regierungsmodell keine Tradition – wie etwa die skandinavischen Länder. Im Kern braucht man in Deutschland eine stabile Regierung mit einer klaren Mehrheit im Parlament.
Ist die AfD der große Profiteur dieser Lage?
Das liegt an uns. Wenn wir zeigen, dass wir eine zwar geschäftsführende aber handlungsfähige Regierung haben und schnell eine Entscheidung treffen, ob es Neuwahlen gibt oder nicht, dann muss es nicht bei der AfD landen. Wir haben ja gezeigt: Wir waren nahe dran an einer Regierungsbildung. Und wir haben das unverantwortliche Gerede der AfD, hier seien „Kartellparteien“ am Werk, für jeden erkennbar widerlegt.
Sehen sie im Video, was Stuttgarter zu den gescheiterten Sondierungssprächen sagen: