In der offenen Singstunde des Zentrums für Psychiatrie sind alle willkommen, die Spaß an der Musik haben. Das Klinikum will damit Raum für Begegnungen schaffen.

Winnenden - Manche kommen Woche für Woche, setzen sich auf einen Stuhl und schauen nur zu. „Und dann, beim zehnten oder elften Mal, stehen sie plötzlich auf und singen mit“, sagt Stefan Weiß. Keiner, der hier im sonnig-gelb gestrichenen Musikraum seine Stimme erklingen lässt, muss Angst haben, ausgelacht zu werden – auch schräge Töne sind erlaubt. „Wir sind kein Chor, es geht hier nicht um Leistung“, betont Weiß. Deshalb, sagt der 29-jährige Musiktherapeut, sei einer der Grundsätze in der offenen Singstunde des Winnender Zentrums für Psychiatrie (ZfP), dass „jeder so singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“. Woraus die Grundregel zwei folgt, und diese lautet: Es gibt keine falschen Töne, nur Variationen.

 

Im Herbst des vergangenen Jahres haben Stefan Weiß und seine Kollegin Simone Ebner erstmals zur offenen Singstunde eingeladen. Zu dem Treffen des Nicht-Chors kamen 20 Interessierte. „Wir waren überrascht, dass es gleich so gut losging“, sagt Simone Ebner. Während an der klassischen Musiktherapie, welche das Klinikum seit Jahrzehnten anbietet, nur Patienten teilnehmen können, gilt für die offene Singstunde: Jeder darf kommen.

Mittlerweile sind jede Woche bis zu 30 Teilnehmer mit von der Partie: junge und ältere, Männer und Frauen, aktuelle und ehemalige Patienten des Klinikums, ZfP-Mitarbeiter und Menschen, die bislang noch nie mit dem Krankenhaus in Berührung gekommen waren. Manche haben schon in Chören gesungen und genießen es, einfach frei heraus und ohne Notenblatt drauflos schmettern zu dürfen. Andere haben noch bis vor kurzem beteuert, dass sie gar nicht singen können.

„Das ist einfach eine schöne Mischung von Leuten“, sagt die 25-jährige Sandra, die von Anfang an dabei war, obwohl sie zuerst ein bisschen Angst hatte, sich zu blamieren. Die offene Singstunde, sagt sie, sei „ein Ort, um der Depression zu entfliehen“. Wie in sich selbst gefangen fühle man sich in einer depressiven Phase. Da sei es ein gutes Gefühl, die Stimme zu erheben. Und so ist sie, wenn möglich, jeden Dienstag hier – obwohl ihr Klinikaufenthalt beendet ist. Auch die ehemalige Patientin Daniela aus Backnang kommt regelmäßig in die Singstunde: „Die Gemeinschaft macht Spaß, und man fühlt sich besser, als wenn man allein Zuhause sitzt.“

Wenn Simone Ebner und Stefan Weiß nach der Gitarre greifen und pünktlich um 16.30 Uhr loslegen, dann wird schnell klar, dass sie nicht nur Musik, sondern auch gute Laune machen können. Gut 20 Sängerinnen und Sänger sind an diesem trüben Wintertag ins Musikzimmer gekommen. Nun stehen sie in einem großen Kreis, in dessen Mitte einige Rasseln und Klanghölzer liegen. Der Mann mit Schiebermütze und Cargohose, die gepflegte Frau im weißen Rollkragenpulli, die ältere Dame in der Strickweste – wer hier Patient, Mitarbeiter oder ein Auswärtiger ist, kann man nur tippen. Und liegt meistens daneben.

Simone Ebner und Stefan Weiß stimmen eine eingängige Melodie an, eine kleine Hymne auf Mutter Erde: „Mother, I feel you under my feet“ singt die Gruppe, und weil die Sache ein wenig indianisch anmutet, dauert es nicht lange, bis die eine oder der andere schnipst und auf den Boden stampft. Das ist gut so, finden die Musiktherapeuten, denn nicht nur die Stimmbänder, auch der Körper darf ruhig ein bisschen in Bewegung kommen. „Heute machen wir mal wieder eine Steinzeitreise“, sagt Stefan Weiß nach dem Indianerlied. Schon schwingen sich die Sänger auf imaginäre „Steinzeitmotorräder“ und düsen los zur Bärenjagd. Unterwegs schießt jeder ein paar Pfeile mit „Lachgift“ auf die Kollegen. Es gibt jede Menge Treffer und lautes Gelächter.

„Die Leute mögen, dass es hier manchmal etwas schräg zugeht“, sagt Weiß, gibt aber zu, dass er vor der ersten Steinzeitreise ein bisschen Bammel vor der Reaktion der Teilnehmer gehabt habe. Aber schließlich darf sich jeder ausklinken und einfach nur schauen. Noch ein Kanon im Flur, wo es besonders schön klingt, dann ist die Stunde auch schon vorbei. Die Sängerschar verabschiedet sich gut gelaunt. „Wenn man hier quasi unter dem Parkettboden rein rutscht, dann geht man nach der Stunde mit hoch erhobenem Haupt wieder raus“, sagt eine Sängerin im Hinausgehen.