Am Sonntag um 3 Uhr um eine Stunde auf 2 Uhr zurückgestellt. Ein Gang durch den Kosmos der Zeitvorstellungen vermittelt einen Eindruck von der Vielfalt menschlichen Zeiterlebens. Während in Deutschland Zeit bares Geld ist, lässt man in Afrika und Indien die Zeit stillstehen.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Braunschweig - In Deutschland und vielen anderen Ländern beginnt an diesem Wochenende die Winterzeit. Die Uhren werden am Sonntag um 3 Uhr um eine Stunde auf 2 Uhr zurückgestellt – eine gute Gelegenheit zum Nachdenken über das Thema Zeit.

 

Für den Zeitforscher Karlheinz Geissler sollte Pünktlichkeit sowieso nicht mehr so hoch bewertet werden, schon gar nicht als Charaktereigenschaft. „Die Uhr kann gehen“, heißt sein Buch, in dem er für ein Ende der Uhrzeitgesellschaft plädiert. In der Wirtschaft gelte längst: „Karriere macht nicht mehr der Pünktliche, sondern der Flexible.“

Ab Sonntag ist wieder Winterzeit

„Nur die Älteren stellen noch selbst um, für die Jüngeren ist die Zeit längst digitalisiert“, sagt der 75-jährige emeritierte Professor aus München. Er spricht von einer „Zeiger-Manipulation“, denn viel mehr sei das nicht, was wir auch an diesem Sonntag wieder machen.

Nach einer Umfrage im vergangenen Jahr, bei der 84 Prozent der Teilnehmer für die Abschaffung der Zeitumstellung votierten, präsentierte die EU-Kommission ihre Pläne zur Abschaffung der halbjährlichen Zeitumstellung. Dafür bräuchte es aber eine Mehrheit unter den EU-Staaten, die bisher nicht in Sicht ist.

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Beschleunigen oder entschleunigen?

Zeit ist kostbar, Zeit ist Geld. Zeit brauchen wir und haben wir nicht. Wenn ein anderer sich Zeit für uns nimmt, sind wir dankbar. Wenn jemand unsere Zeit stiehlt, werden wir ärgerlich. Wertvolle Zeit ist schnell verloren und schwer wieder aufzuholen. Der rechte Umgang mit der Zeit gehört zur Kunst des Lebens.

Die Moderne ist eine Zeit der Beschleunigung. Immer mehr Menschen müssen sich in immer kürzeren Fristen auf Neuerungen und Veränderungen einstellen: im Verkehr und Beruf, in der Freizeit und Familie, sogar in der Kirche. Das Tempo der Veränderungen steigt. Umso wichtiger ist es, den rechten Umgang mit der Zeit zu lernen: Wann muss man schnell reagieren, wann langsam tun? Wann wird es Zeit, sich zu verändern? Wann braucht es Zeiten der Ruhe und Stille?

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„Time ist money“ – „Zeit ist Geld“

Der Takt der Uhr bestimmt unser ganzes Dasein. Aufstehen, Arbeiten, Essen, Freizeit, Schlafen – jede Minute ist durchgeplant. Niemand hat Zeit zu verschenken, jeder Moment muss so effektiv und produktiv wie möglich genutzt werden.

„Time ist money“ – „Zeit ist Geld“: Dieser Satz, den Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der USA, 1748 in seinem Buch „Ratschläge für junge Kaufleute“ prägte, beschreibt den Umgang mit einem kostbaren Gut, das sich nicht festhalten lässt und wie Sand durch die Finger rinnt.

Zeit – eine kulturabhängige Variable

Zeit ist keine unwandelbare anthropologische Konstante, sondern kulturabhängig. So unterschiedlich wie Gesellschaften und ihre Lebensbedingungen sind auch die Zeitvorstellungen. Ein gestresster Mitteleuropäer nimmt Zeit ganz anders wahr als ein Nigerianer, Brasilianer oder Aborigine.

Während in Deutschland Warten verpönt ist und Pünktlichkeit als Tugend gilt, sind Geduld und Warten in afrikanischen Staaten fester Bestandteil des Alltags. Manche Kulturen haben für die verschiedenen Zeitperioden nicht einmal ein Wort. Hindus und Buddhisten erleben die Zeit nicht als linearen Fortschritt, sondern als ewigen Zyklus des Werdens und Vergehens.

Der folgende Gang durch den Kosmos der Zeitvorstellungen soll einen Eindruck des Zeiterlebens der Völker vermitteln:

Landkarte der Zeit

Der amerikanische Sozialpsychologe Robert Levine (1945-2019) war ein versierter Zeitpionier. In den 1990er Jahren bereiste er 31 Länder, um das unterschiedliche Zeitbewusstsein der Menschen zu erforschen. Heraus kam eine „Landkarte der Zeit“, die beschreibt, wie Menschen ihre Zeit begreifen, nutzen und messen. Das schnellste Lebenstempo legen die Schweizer vor, gefolgt von Deutschen, Iren und Japanern.

Levine legt drei Indikatoren zugrunde, um den Umgang mit der Zeit zu berechnen: die Schrittgeschwindigkeit von Fußgängern in Innenstädten, das Arbeitstempo von Postbediensteten und die Genauigkeit öffentlicher Uhren. Länder mit einer individualistischen Kultur und schnell wachsenden Wirtschaft werden, so Levine, stärker vom Takt der Uhr und Termindruck bestimmt als ärmere Gesellschaften, in denen der soziale Zusammenhalt noch ausgeprägter ist.

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Zeiterleben: Traumzeit und Schlangestehen

In der Mythologie der Aborigines, der australischen Ureinwohner, spielt die „Traumzeit“ eine zentrale Rolle. Mit Träumen hat dies wenig zu tun. Vielmehr geht es um die universale, zeit- und raumlose Welt, aus der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im ewigen Schöpfungsprozess hervorgehen. Sie ist Quelle allen Seins und verbindet die Welt der Lebenden mit der der Ahnen.

Für viele Afrikaner ist Schlangestehen keine Zeitverschwendung, sondern eine sinnvolle Beschäftigung. Ihr Lebenstempo ist gemächlicher, man nimmt sich mehr Zeit für spontane Gespräche. In Burundi etwa kommt man ohne Uhren aus, weil sich die Menschen am Rhythmus der Natur orientieren. Levine zufolge geht es auch in Brasilien betont langsam zu. Brasilianer hätten „jeden Anspruch auf Orientierung an der Uhr aufgegeben“. Es sei unhöflich, pünktlich zu Terminen und Treffen zu kommen.

Rechter Augenblick wichtiger als Pünktlichkeit

Die südamerikanischen Quetschua- und Aymara-Indianer kennen für Zeit nur das Wort „pacha“. Ungeduld und Stress sind ihnen unbekannt, sie lassen sich nicht so schnell aus der Balance bringen. Auch die indische Sprache hat für Zeit ein universales Wort: „kal“.

Hindus kann die Zeit nicht wie Deutschen davonlaufen, weil sich für sie alles Dasein im Kreislauf der Wiedergeburt wiederholt. Bei Terminen sollte man Zeit für spontane Änderungen mitbringen. Für Hindus ist der rechte Augenblick wichtiger als Pünktlichkeit. Was zählt, ist das Hier und Jetzt.