Seit 150 Jahren gibt es „Gütermanns Nähseide“. Früher gehörten die Garne aus dem Elztal zur Grundausstattung jeder guten Hausfrau, heute finden sie in Airbags und Autositzen Verwendung.

Baden-Württemberg: Heinz Siebold (sie)

Gutach - Der Schornstein raucht noch, es ist der letzte hohe Schlot weit und breit. Kurz hinter der Orgelstadt Waldkirch im Landkreis Emmendingen sieht man ihn von der Bundesstraße 294 aus, links unten am Ufer der Elz. Der Kamin gehört zu Gütermann in Gutach, der Nähfadenfabrik mit großer Tradition.

 

Gütermann-Nähseide – die gute Hausfrau hat sie immer noch im Nähkästchen. „Wir wollen die beste Nähseide auf die wirtschaftlichste Weise herstellen und sie so verkaufen, dass der Verbraucher sie so billig wie möglich erhalten kann.“ Das ist die Leitidee, mit der Max Gütermann (1828– 1895) sein Textilgeschäft im Tal der Elz begründet, entwickelt und seinen Söhnen und Enkeln übergeben hat.

Gütermann gehört zu den Textilfabriken, die den Ruf Südbadens als Hochburg der Branche vor mehr als einem Jahrhundert begründet und in alle Welt getragen haben. Die meisten Fabriken sind längst von der Bildfläche verschwunden. Bei Gütermann ist der Faden nie abgerissen, er besteht freilich heute nicht mehr aus Seide, sondern meist aus Polyester. Aber er steckt in Knopflöchern feiner Anzüge, in Airbags und Feuerschutzanzügen. Die Europäische Aktiengesellschaft Gütermann SE ist immer noch fast ausschließlich in der Hand von Angehörigen der weit verzweigten Gütermann-Familie.

Die Elz, ein schmales, von Furtwangen im Schwarzwald zum Rhein fließendes Flüsschen von 90 Kilometer Länge, war für die Ansiedlung der Nähfadenfabrik von Max Gütermann wichtig. Ihr Wasser ist besonders weich und zum Färben gut geeignet. Es gab weitere Gründe, weshalb der ursprünglich aus Oberfranken stammende Kaufmann samt seinem 1864 gegründeten Unternehmen drei Jahre später aus der Weltstadt Wien in das einsame Schwarzwaldtal zog. Gütermann war Ökonom durch und durch: Die sich anbahnende „kleindeutsche Lösung“ – ein Deutsches Reich ohne Österreich – hätte für ihn den Verzicht auf einen großen Markt bedeutet, weil die „Ostmark“ Österreich nicht zum deutschen Zollverein gehörte.

Gütermann eroberte den deutschen Binnenmarkt

Darum suchte er einen neuen „deutschen“ Firmenstandort, und weil es geschäftliche Kontakte mit Textilunternehmen in Waldkirch gab, kam der Reisende auch immer häufiger ins Elztal. Durch Geschäftsgespräche mit einer einzelnen Dame wurden die Kontakte offenbar noch intensiver, und so gab es, als die Familie Gütermann mit neun gemeinsamen Kindern nach Gutach zog, bereits ein weiteres „Gütermännle“ außerhalb der Ehe. Ob Maxens Gattin Sophie davon wusste und wie sie damit umging, ist nicht verbrieft. Überliefert ist aber, dass der Vater seinen Sohn später in der Firma unterbrachte.

Die Spekulation Gütermanns auf den gemeinsamen deutschen Binnenmarkt ging auf, und das Unternehmen entwickelte sich in wenigen Jahren zu einer bedeutenden internationalen Größe, während andere damals gegründete Nähfadenfabriken längst eingegangen oder, wie die frühere Mez AG Freiburg, in der Tiefe von Fusionen verschwunden sind.

Die beiden Elztäler Dörfer Gutach und Kollnau wurden über die Jahrzehnte von den Gütermanns geprägt wie Essen von Friedrich Krupp. Dessen Werkswohnungen waren auch das Vorbild für die Arbeiterhäuser in Gutach. Die Fabrik brauchte rasch viele Arbeitskräfte. „Die Gütermanns haben viel für die Region getan, sie haben hier eine komplette Infrastruktur aufgebaut“, sagt der Gutacher Architekt Klaus Wehrle: Villen, Arbeiterhäuser, ein Kraftwerk, ein Krankenhaus sind entstanden, Schulen, Kindergärten, ein Gutshof, ein Fußball- und ein Golfplatz.

Und 1914 stifteten die Gütermanns eine Kirche. Eine katholische Kirche wohlgemerkt, obwohl die Gründergeneration von Max und Sophie jüdischen Glaubens war und ihre Kinder protestantisch getauft hatte. Doch nach und nach kamen Katholiken als Schwiegersöhne oder -töchter in die Familie, das Glaubensbekenntnis war nicht so streng wie bei der anderen großen Nähfadenfamilie des pietistischen Protestanten Carl Mez in Freiburg. Zu der unterhielt man gute Beziehungen, selbst wenn man gegeneinander prozessierte. Im Jahr 1930 arrangierte man sich über die Geschäftsbereiche: Gütermann übernahm die Nähseidensparte, Mez das Baumwollgarn.

Zwicky, der erste familienfremde Geschäftsführer

Der Herr im Haus der Aktiengesellschaft Gütermann ist heute erstmals ein familienfremder Geschäftsführer: Peter Zwicky, 60, entstammt einer Schweizer Textilfabrikantenfamilie. Zwicky hatte die Nähfadensparte seiner Firma bei Gütermann eingebracht, seit 2003 leitet er die AG, seit 2008 ist er alleiniger Vorstand, und mit Clemens Gütermann schied der letzte Familienspross aus der Führungsspitze aus. Ob freiwillig, darüber schweigen die Beteiligten, Interna werden bei Gütermann ungern preisgegeben.

Im Jahr 2008 geriet die Traditionsfirma gleich in Existenznöte. „Wir hatten eine neue Fabrik in Indien gebaut und in Gutach in eine neue Produktionstechnologie investiert“, erzählt Peter Zwicky. Mit der allgemeinen Finanzkrise brach dann der Umsatz weltweit ein. „Wir standen mit dem Rücken an der Wand.“ Kurzarbeit, dann Personalabbau, schließlich veräußerte die Firma ihr Tafelsilber, sie besaß eine Menge Land und Immobilien. Schon der dichtende Pfarrer Heinrich Hansjakob (1837–1916) hatte über die früheren Landkäufe der Unternehmerfamilie gespöttelt. „Ihrem Namen Gütermann macht die Firma auch Ehre, wie mir die Leute sagten. Sie kauft an dem linken Ufer der Elz Bauernhöfe zusammen, reißt die Häuser nieder und arrondiert große Flächen“, berichtete der Dichter von einer Elztalreise 1910.

Heute sind die Firmengüter verkauft. Das Gelände des 1924 angelegten Golfplatzes ebenso wie die Villen und der Gutshof. Auch die Arbeiterhäuser. Fast jeder in Gutach hat mal mit Gütermann zu tun gehabt. Wenn nicht auf der Arbeit, dann in der Freizeit. Gütermann hat Vereine gegründet und gefördert, die Werkskapelle und den Sportverein genauso wie die Feuerwehr. Und ein Mandolinenorchester für die italienischen Gastarbeiter.

Wo früher die Enkel und Urenkel der Gründerfamilie geboren und aufgezogen wurden, wohnen also bald andere Leute. Auch im Haus Alexander, eines von drei existierenden Herrenhäusern, die die Söhne von Max Gütermann für sich bauten. „Hier bin ich aufgewachsen“, sagt wehmütig Alexanders Urenkelin Alexandra Gütermann. Die Sprachlehrerin ist die Haushistorikerin der Familie, sie hat drei Bücher über die Gütermanns geschrieben. „Die Gründergenerationen haben Außergewöhnliches geleistet“, sagt sie. Sie waren Pioniere, Sozialreformer, Patriarchen – auch darin waren die Gütermann- und die Mez-Fabrikanten geistesverwandt: Es gab Wohltaten wie Kranken- und Rentenkassen, aber auch strenge Fabrikordnungen gegen Schlamperei und Müßiggang.

Benz lieferte seine Benzinkutsche persönlich ins Elztal

Die Gütermanns hatten wie jede andere Familie gute und weniger gute Zeiten. Es gibt Anekdoten wie diese: Alexander Gütermann war der Erste im Ort, der sich im vorvorigen Jahrhundert ein Auto leisten konnte. Er kaufte den ersten Motorwagen bei Carl Benz. Der lieferte die Benzinkutsche aus Mannheim 1894 persönlich an. Wenig später bekam der flotte Junior einen Strafzettel von drei Mark, weil er mit dem „Benzin-Motor-Pferd“ so schnell gefahren sei, „dass in einer Wirtschaft die Vorhänge geflattert haben“, wie das großherzogliche Bezirksamt seinerzeit monierte.

Es gab auch Schattenseiten, Scheidungen und Kräche. Und es gab die schlimme Zeit des Dritten Reiches, über die man im Elztal noch heute nicht gerne spricht. Es war die Zeit, da die Familie wegen ihrer jüdischen Wurzeln – obwohl konvertiert – Repressionen der Nazis ausgesetzt war. Jene, die in der Firma Verantwortung trugen, hatten mit Unbilden gerechnet. Vermutlich – so stellt es sich jedenfalls heute dar – versuchten sie in weiser Voraussicht, Teile des Vermögens vor dem Zugriff der braunen Machthaber zu schützen. Geschäftsbeziehungen in die Schweiz waren möglicherweise ein Mittel dazu. Doch im September 1938 wurden alle Geschäftsführer von Gütermann in Gutach unter dem Vorwand eines Devisenvergehens verhaftet und misshandelt. Einer nahm sich deshalb das Leben, ein anderer starb unter ungeklärten Umständen in der Psychiatrie. Die Firma musste Rüstungsgüter herstellen und Zwangsarbeiter beschäftigen.

Erst das „Wirtschaftswunder“ in der Nachkriegsrepublik brachte Gütermann wieder in die Nähkästchen der Hausfrauen. Mit der Abwanderung der Textilindustrie nach China veränderte sich auch die Produktionspalette im Elztal. Gütermann produzierte immer mehr „technische“ Garne, die zum Beispiel in Autositzen verwendet werden. Die wohl spektakulärste Lieferung hatte Gütermann im Jahr 1995: Das Künstlerpaar Christo orderte 1300 Kilometer Gütermann-Faden „Tera 10“ für die Reichstagsverhüllung in Berlin.

Auch wenn heute die Güter verkauft und die Fabrik nur noch 380 Beschäftigte in Gutach (und weltweit rund 1000) braucht, um hochtechnisiert und durchrationalisiert Nähfäden für Hausfrauen, Modefirmen und die Industrie zu produzieren, bleibt Gütermann mit weiteren Fabriken in Spanien, Mexiko und Indien und Vertriebsfirmen in aller Welt eine hoch angesehene Marke. „Wir sind quasi back to normal“, sagt Peter Zwicky. Er muss es wissen.