Wachstum um jeden Preis? Abseits vom Scheinwerferlicht stellt sich der Bundestag schwierige Fragen: Wie wollen wir wirtschaften?

Berlin - Es ist Sitzungswoche im Bundestag. Im Paul-Löbe-Haus, in dem sich Büros und Tagungsräume der Abgeordneten befinden, herrscht Hochbetrieb. Ausschüsse tagen, Arbeitsgruppen treffen sich. Im Sitzungssaal E 700 finden sich mehr als 30 Parlamentarier und Wissenschaftler ein. Seit 2011 tagt die Enquetekommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“. Von der Öffentlichkeit wird diese Arbeitsgruppe kaum wahrgenommen, dabei ist deren Tätigkeit von großem Interesse. „Wir wollen beschreiben, wie wir morgen leben wollen“, sagt das Kommissionsmitglied Edelgard Bulmahn (SPD); sie war früher bei Rot-Grün Bildungsministerin. Der Anspruch ist hoch. Die Abgeordneten und Professoren gehen der Frage nach, ob das ständige Streben nach hohem Wachstum Zukunft hat. Diese Debatten finden immer noch in kleinen Zirkeln statt. Auf der Zuschauerbühne versammeln sich an diesem Tag nur einige Schüler und Studenten.

 

Die Antworten auf die Frage, wie Wirtschaftswachstum aussehen soll, hängt von der Perspektive ab. Wer in Schwellenländern erlebt hat, wie Konsumenten am Monatsanfang in die Einkaufszentren strömen, mag solche Debatten als akademisch abtun. In Ländern wie Argentinien und Brasilien freuen sich immer mehr Menschen, dass es ihnen möglich ist, den neuen Kühlschrank oder die Waschmaschine in Raten abzustottern. Der Nachholbedarf ist dort immens. Schnelles, rasantes Wachstum hat in diesen Ländern Priorität.

Das Wachstum sinkt

Auch in der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland ist die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) noch immer die wichtigste Kennziffer. Steigt das BIP, das die gesamte Wertschöpfung innerhalb der Landesgrenzen in einem bestimmen Zeitraum definiert, ist das für Politik, Wirtschaft und Medien eine gute Nachricht. Das BIP ist immer noch die wichtigste Kennziffer für wirtschaftliche Prosperität. Zurzeit sind die Aussichten weniger günstig, was die Politik gern verschweigt. Wie das geht, hat Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) in dieser Woche bei der Vorstellung des Jahreswirtschaftsberichts vorgemacht. Er erwartet für 2013 ein Wachstum von 0,4 Prozent. Bis in den Herbst vergangenen Jahres hatte die Regierung noch geglaubt, 2013 werde die Wirtschaft um einen Prozent wachsen. Nun sind die Aussichten schlechter, was aber keine Regierung so sagen würde. „Trotz der vergleichsweise niedrigen Zahl kann man nicht von einer schlechten Konjunktur sprechen“, meinte Rösler.

In der Enquetekommission sind die meisten Mitglieder der Meinung, dass der Wachstumsbegriff fragwürdig ist. „Was in den fünfziger und sechziger Jahren funktionierte, hat keinen Bestand mehr“, sagt SPD-Frau Bulmahn. Die Gleichung, wonach es nur auf hohes Wachstum ankommt, stimmt schon lange nicht mehr. Seitdem der Club of Rome 1972 auf die Grenzen des Wachstums aufmerksam machte, ist diese Erkenntnis weit verbreitet. Doch in der Praxis bleibt dies häufig folgenlos. Die Enquetekommission will 40 Jahre später neue Indikatoren finden, um die Lebensqualität in Deutschland messen. Mindestens zwölf Messzahlen sind im Gespräch, die über soziale, gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen künftig Auskunft geben sollen. Nicht nur das Wachstum, sondern auch die Einkommensverteilung, der Schuldenstand und die Biodiversität sollen mit einem Indikator erhoben werden. Nach Ansicht des renommierten Wissenschaftlers Meinhard Miegel, ebenfalls Mitglied der Kommission, ist das Kennziffernsystem überfrachtet. Miegels Zweifel sind berechtigt. Mit neuen Datensätzen ist nichts erreicht.

Der Wunsch nach Veränderungen ist da

Viele Kommissionsmitglieder äußern den Wunsch nach größeren Veränderungen. „Die Opposition ist der Meinung, dass die finanziellen und ökologischen Krisen nicht nur einmalige Betriebsunfälle sind“, sagt die Sozialdemokratin Bulmahn. Wirtschaft und Gesellschaft müssten sich stärker mit der Frage auseinander setzen, wie sie in Zukunft wachsen wollten. Selbst für die FDP, die unter den Parteien wohl am stärksten dem Wachstum huldigt, sind Zuwächse kein Wert an sich. „Wachstum ist für uns keine politische Steuerungsgröße“, sagt der FDP-Abgeordnete Florian Bernschneider. Die Liberalen sind dafür, dass der Staat beispielsweise in der Umwelt- und Sozialpolitik den Ordnungsrahmen setzt. Doch eine staatliche Einflussnahme auf das Wachstum lehnen die Liberalen ab. Das soll aus ihrer Sicht der Markt entscheiden.

Die ideologischen Differenzen haben dazu geführt, dass die Enquetekommission über den Stellenwert des Wachstums zerstritten ist. Koalition und Opposition legten zu diesem Punkt jeweils eigene Berichte vor – was auch nach Einschätzung der Mitglieder dazu führt, dass sich die Enquetekommission selbst schwächt. Der Wissenschaftler Miegel erhebt in der Sitzung den Vorwurf, dass sich Koalition und Opposition interessengeleitet verhielten. Die schwarz-gelbe Koalition wolle im Wahljahr eine Debatte vermeiden, wie der Wohlstand in Deutschland verteilt ist, so Miegel. Und die Opposition ziele darauf ab, dass der Sozialstaat auf keinen Fall in Frage gestellt werde soll. Der Opposition gehe es um mehr Geld für diverse Bereiche.

Irgendwann stößt eine Exportindustrie an ihre Grenzen

Das sind aber nicht die entscheidenden Fragen. In Deutschland finden bisher viele Debatten statt, wo Mittel fehlen. Wie Wirtschaft und Gesellschaft auf Dauer mit geringen Wachstumsraten auskommen, ist kein Thema. Dass die Zuwachsraten kleiner werden, ist zwangsläufig. Die Ursachen dafür sind vielfältig: Sie liegen in der Globalisierung, notwendigen Umwelt- und Klimaschutzregeln und der demografischen Entwicklung. Meinhard Miegel formuliert das so: „Wir müssen klären, wie Wirtschaften unter den Bedingungen der Kontraktion möglich ist.“ Dass es mit der Expansion nicht immer so weiter gehen kann, darauf deuten abnehmende Ressourcen.

Schon in den vergangenen Jahrzehnten zeigte sich, dass die deutschen Wachstumsraten im Schnitt nur noch zwischen einem und 1,5 Prozent lagen. Die hohen Zuwächse wie in Schwellenländern sind hier zu Lande die Ausnahme. Zu beobachten sind sie nur noch nach politischen Umwälzungen wie der Wiedervereinigung oder einer wirtschaftlichen Zäsur wie nach der tiefen Rezession 2009. Danach setzte in Deutschland ein Aufholprozess ein. Nun zeichnet sich Normalisierung ab. Was diese Entwicklung für Arbeitsplätze und Sozialversicherungssysteme bedeutet, darüber muss nachgedacht werden. Doch das Beharrungsvermögen ist beträchtlich.

In der Enquetekommission setzen vor allem Vertreter von Union und FDP darauf, dass der Siegeszug der deutschen Industrie so weitergeht. Dass Deutschland anders als andere Länder sein Wohl nicht nur im Dienstleistungssektor gesucht hat, erweist sich zweifellos als Vorteil. Dennoch wäre es falsch, die Augen davor zu verschließen, dass auch eine leistungsfähige Exportindustrie irgendwann an Grenzen stößt.

Moderne Technologien erweisen sich als Wettbewerbsvorteil

Irritieren muss jedenfalls die Gewissheit, welche die Regierungsfraktionen zur Schau stellen. Union und FDP sind der Meinung, Deutschland habe seine Hausaufgaben gemacht und es herrsche qualitatives Wachstum vor. Für viele Bereiche stimmt das. So hat etwa die Chemieindustrie in Deutschland viel dafür getan, den Schadstoffausstoß zu verringern. Die modernen Technologien und Verfahren erweisen sich nun als Wettbewerbsvorteil.

Dennoch ist die Kritik des Wissenschaftlers Miegel ernst zu nehmen. Er macht darauf aufmerksam, dass der Erfolg vieler Unternehmen nach wie vor auf quantitativem Wachstum beruht. Im Wirtschaftsleben steht allzu oft Masse und nicht Qualität im Vordergrund. Beispiele dafür sind Textilketten, die mit Billigwaren aus fragwürdiger Produktion scharenweise Käufer locken. Auch die Kommunikationsindustrie hat es geschafft, den Verbrauchern einzureden, dass alle paar Jahre ein neues Handy nötig sei. Dieses kurzfristige Denken lässt sich auch in der Finanzbranche finden. Es sind nicht nur die Geldhäuser, die hohe Risiken eingehen. Die Notenbanken rund um den Globus schleusen nach wie vor unvorstellbare Summen in den Wirtschaftskreislauf, um mit einer Politik des billigen Geldes Unternehmen und Verbraucher bei Laune zu halten. Dass dies nicht nachhaltig sein kann, hat die letzte Finanzkrise gezeigt.

Die Finanz- und Umweltkrisen waren der Anlass, warum sich der Deutsche Bundestag vor drei Jahren für eine Enquetekommission entschied. Er verband damit die Erwartung, neue Wege zu weisen. Davon ist die Kommission weit entfernt. Selbst einige Mitglieder räumen ein, dass ein Teil der Empfehlungen nach der Veröffentlichung im Frühjahr wieder in den Schubladen verschwinden dürfte.

Das deutet auf ein bekanntes Muster hin. Nachdem Krisen scheinbar überwunden sind, geht die Gesellschaft nur allzu gern zur Tagesordnung über. Die Regierungen auf der Welt haben nach der Finanzkrise zwar Kontrollen und Regeln verschärft. Auf vielen Spielfeldern machen die Akteure aber weiter wie zuvor. Dennoch ist es zu einfach, die Enttäuschung allein bei der Politik abzuladen.

Die Frage nach dem richtigen Maß richtet sich an jeden Einzelnen.