Die Wirtschaftsweisen machen klare Ansagen. Die Koalition sollte ihnen Gehör schenken, findet unser Autor Thorsten Knuf.

Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, besser bekannt als die „Wirtschaftsweisen“, ist nicht dafür da, um der Bundesregierung zu gefallen. Vielmehr soll das Gremium die Exekutive kritisch beraten. Das ist kein angenehmer Job: In ihren Jahresgutachten gehen die Experten immer wieder hart mit der jeweils amtierenden Regierung ins Gericht. Was aus wissenschaftlicher Sicht sinnvoll oder gar notwendig erscheint, kann aus Sicht der Politik schwierig oder unmöglich sein.

 

An diesem Mittwoch werden die fünf Wirtschaftsweisen zum ersten Mal dem Ampel-Kabinett ein Jahresgutachten überreichen. Es hat sich einiges geändert in dem fünfköpfigen Gremium: Erstmals seit dessen Gründung vor fast 60 Jahren sind jetzt die Frauen in der Mehrheit. Und mit der Münchner Wirtschaftsprofessorin Monika Schnitzer hat der Rat auch eine neue Vorsitzende.

Nicht vom Krisenmanagement überzeugt

Nach Lage der Dinge werden die Expertinnen und Experten der Berliner Koalition zum Einstand gleich einmal eine klare Ansage machen: Sie finden das wirtschaftspolitische Krisenmanagement des Scholz-Kabinetts nur eingeschränkt überzeugend, ja sogar sozial unausgewogen. Das ist ein harter Vorwurf gegen eine Regierung, an deren Spitze ein Sozialdemokrat steht. Um die Hilfen gegen hohe Energie- und Lebenshaltungskosten gezielter und ausgewogener zu machen, schlagen die Wirtschaftsweisen eine zeitlich befristete Erhöhung des Spitzensteuersatzes oder eine Art Energie-Soli für Besserverdienende vor. Auf diese Weise könne der Staat auch zusätzliche Einnahmen erzielen und die Hilfspakete damit teilweise gegenfinanzieren, argumentieren sie.

Dieser Vorschlag kommt einer Ohrfeige für Finanzminister und FDP-Chef Christian Lindner gleich, dessen Partei sich mit aller Macht gegen Steuererhöhungen wehrt und vor einem Jahr einen Ausschluss derselben zur Bedingung für ihren Eintritt in die Koalition gemacht hatte.

Kritik an Plänen der FDP und der Grünen

Lindners Pläne für den Ausgleich der kalten Progression halten die Fachleute in der gegenwärtigen Lage für unangebracht, sie empfehlen eine Verschiebung. Aber auch für die Grünen halten die Ökonomen eine Zumutung bereit: Sie fordern, die Laufzeiten der Atomkraftwerke angesichts hoher Energiepreise auch über den April 2023 hinaus zu verlängern.

Es wäre wenig verwunderlich, wenn die Koalitionsparteien wie folgt auf die Empfehlungen reagieren würden: Man nimmt das Gutachten lächelnd entgegen, pickt sich nur die Teile heraus, die zum jeweils eigenen Programm passen und weist den Rest als unrealistisch zurück. SPD und Grüne sind ohnehin dafür, Besserverdiener stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen. Die FDP dringt auf längere Atom-Laufzeiten.

Womöglich müssen noch mehr Tabus fallen

Dabei ist es gut möglich, dass das Land in wenigen Monaten in eine Situation gerät, in der die Koalitionäre mit selektiven Antworten nicht mehr weiterkommen. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine ist schon jetzt eine gewaltige Herausforderung für die hiesige Gesellschaft und Volkswirtschaft. Aber womöglich ist das Ende der Fahnenstange noch gar nicht erreicht.

Was ist eigentlich los, wenn Deutschlands Energieversorgung im kommenden Frühjahr wider Erwarten nicht gesichert ist? Was passiert, wenn im Winter Millionen ukrainischer Flüchtlinge ihr geschundenes Land verlassen? Und wie sicher kann man sein, dass die deutschen Unternehmen und der Arbeitsmarkt trotz Energiepreisbremse einigermaßen stabil durch die Krise kommen? Ungewöhnliche Zeiten verlangen von der Politik ungewöhnliche Entscheidungen. In dieser Krise sind schon zahlreiche Tabus gefallen. Niemand kann und niemand sollte ausschließen, dass weitere folgen müssen.