Noch sieht der Sachverständigenrat die deutsche Wirtschaft auf Wachstumskurs. Aber nur, wenn russisches Gas und Öl weiter fließen.

Korrespondenten: Barbara Schäder (bsa)

Eine Unterbrechung der russischen Energielieferungen würde Deutschland nach Einschätzung der Wirtschaftsweisen in eine Rezession stürzen. Gleichzeitig könnte die Inflationsrate auf bis zu neun Prozent steigen, sagte der Wirtschaftsweise Volker Wieland am Mittwoch bei der Vorstellung der neuesten Konjunkturprognose des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Als Basisszenario betrachtet der Rat allerdings einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 1,8 Prozent und eine Inflationsrate von 6,3 Prozent im Jahresschnitt.

 

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Schon diese Vorhersagen sind deutlich pessimistischer als das im vergangenen November vorgelegte Jahresgutachten. Darin hatte der Sachverständigenrat für 2022 noch ein Wirtschaftswachstum von 4,6 Prozent und eine Inflationsrate von 2,6 Prozent prognostiziert.

Auch Wirtschaftsforschungsinstitute änderten ihre Prognosen

Vor dem Sachverständigenrat, der in jedem Frühjahr eine Konjunkturprognose veröffentlicht, hatten bereits die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Vorhersagen für 2022 korrigiert. Grund sind der Krieg in der Ukraine und die gegen Russland verhängten Sanktionen. „Durch den Krieg werden die wegen der Coronapandemie bereits angespannten Lieferketten zusätzlich beeinträchtigt“, erklärte der Wirtschaftsweise Achim Truger. „Gleichzeitig belasten die nochmals kräftig gestiegenen Preise für Erdgas und Erdöl die Unternehmen und den privaten Konsum.“

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Wenn Russland die Energielieferungen einstellen oder die EU die Importe stoppen sollte, wären weitere Preissprünge zu erwarten. Bezogen auf die prognostizierte Wachstumsrate von 1,8 Prozent wäre dann „ein Abschlag von drei bis fünf Prozentpunkten“ realistisch, sagte der Wirtschaftsweise Volker Wieland. Das Bruttoinlandsprodukt würde also um mindestens 1,2 Prozent schrumpfen, im schlimmsten Fall sogar um mehr als drei Prozent. Zum Vergleich: Im ersten Coronajahr 2020 war die Wirtschaftsleistung um 4,6 Prozent eingebrochen.

Krisen wirken unterschiedlich

Die damaligen Lockdowns hätten weite Teile der Wirtschaft lahmgelegt, erklärte Wieland. Dagegen würden die unmittelbaren Folgen eines Gaslieferstopps vor allem energieintensive Branchen wie die Chemieindustrie treffen. Zwar würden deren Produkte auch in anderen Branchen benötigt, doch ließen sich diese teilweise durch Importe aus anderen Weltregionen ersetzen: „Düngemittel kann man auch in den USA bestellen“, sagte er mit Blick auf die Landwirte. Sie leiden schon jetzt darunter, dass sich mit dem Anstieg der Erdgaspreise in Europa auch Stickstoffdünger massiv verteuert hat. Die Wirtschaftsweise Monika Schnitzler gab indes zu bedenken, dass sich die Konjunktur von einer neuerlichen Rezession nicht so schnell erholen dürfte wie nach dem tiefen Einbruch im Frühjahr 2020. Bei einem Ausfall der russischen Gaslieferungen müssten die Europäer „neue Anbieter finden, Pipelines aufbauen, LNG-Terminals aufbauen, das alles dauert“.

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Ob ein Boykott russischer Gaslieferungen politisch wünschenswert wäre, wollten die Wirtschaftsweisen nicht bewerten. Wieland erklärte, zweifellos würden bei einer Unterbrechung der Energielieferungen „Unternehmen untergehen“ und Arbeitsplätze vernichtet. „Aber das ist nicht vergleichbar mit dem Effekt auf die russische Wirtschaft.“ Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) hatte unlängst argumentiert, ein Boykott russischer Gasimporte würde Deutschland mehr schaden als Russland.

Verlängerung der AKW-Laufzeiten gefordert

Die Wirtschaftsweisen erklärten, entscheidend sei, „sich gegen einen Lieferstopp zu wappnen“. Dazu könne auch „eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken beitragen“.

Die Bundesministerien für Umwelt und für Wirtschaft hatten diese Option Anfang März nach einer kurzen Prüfung verworfen. Zur Begründung verwiesen sie auf Probleme bei der Beschaffung neuer Brennelemente und die fortbestehenden Sicherheitsbedenken. Obendrein halte sich der Nutzen in Grenzen, weil die Kernkraftwerke zwar Kohlestrom ersetzen könnten, den Gasbedarf aber nur geringfügig reduzierten.

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Wieland argumentierte dagegen, die Kosten-Nutzen-Rechnung fiele anders aus, wenn neben einer Verlängerung der Laufzeiten der aktuell noch drei am Netz befindlichen Atomkraftwerke auch die Reaktivierung anderer Meiler erwogen würde. „Frankreich und Spanien hätten mit einem Gas-Importstopp kein großes Problem“, sagte er mit Blick auf die dortigen Atomkraftwerke.

Warnung vor einer Lohn-Preis-Spirale

Der von den Energiepreisen getriebene Anstieg der Inflationsrate wird sich nach Einschätzung des Sachverständigenrats auch auf die laufenden Tarifverhandlungen auswirken. „Die Dynamik für Lohnforderungen dürfte ab dem zweiten Halbjahr 2022 zunehmen. Damit steigt das Risiko einer Lohn-Preis-Spirale“, erklärte die Wirtschaftsweise Veronika Grimm. Für das Jahr 2022 erwartet der Sachverständigenrat ein Wachstum der von den Unternehmen tatsächlich gezahlten Löhne (Effektivlöhne) von 2,5 Prozent. Im kommenden Jahr dürften die Löhne dann um 4,4 Prozent steigen.

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Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ist das wichtigste ökonomische Beratergremium der Bundesregierung. Seit die SPD vor einem Jahr eine weitere Amtszeit für den damaligen Ratsvorsitzenden Lars Feld abgelehnt hat, sind die Wirtschaftsweisen nur noch zu viert.