Es gibt Menschen, die ihre Schlafqualität und ihre nächtliche Aktivität mit speziellen Matten und Uhren messen. Andere kennen jedes Nahrungsergänzungsmittel, das einen positiven Einfluss auf die Leistungsfähigkeit des Gehirns verspricht und damit vielleicht einer Demenz entgegenwirkt. Statt Kaffee trinken sie Matcha-Latte. Matcha soll oxidativen Stress bekämpfen, der als ein Faktor für Altern gilt.
Ihr Ziel ist es nicht nur gesund, sondern möglichst lange zu leben. Dafür optimieren sie sich gnadenlos – und werden Teil einer Bewegung, die sich „Longevity“ nennt und vor einigen Jahren im Silicon Valley entstanden ist. Zahllose Podcasts, Videos und Ratgeber befassen sich inzwischen mit diesem Thema – beispielsweise „Die Wissenschaft und Kunst des langen Lebens“ oder gleich: „How Not to Die“ („Wie man nicht stirbt“).
Einfach nur leben und gemütlich alt werden?
Longevity bedeutet Langlebigkeit. Das Max-Planck-Institut (MPI) beschreibt diese Langlebigkeit als die Fähigkeit, „ein langes Leben zu führen, das über das artspezifische, durchschnittliche Sterbealter hinausgeht“.
Einfach nur leben und gemütlich alt werden? Das reicht nicht mehr. Longevity-Anhänger essen äußerst gesund, treiben täglich Sport, nehmen Nahrungsergänzungsmittel ein und überwachen ihren Körper mit Geräten, um ihn zu kontrollieren und zu perfektionieren. Langlebigkeit ist ein Vollzeit-Job.
Was wie ein neuer, pfiffiger Trend daher kommt, ist fast so alt wie die Menschheit: Der Wunsch nach dem ewigen Leben, ja nach Unsterblichkeit. Nichts hat den Fortschritt in Medizin und Gesundheit so angetrieben, wie die Sehnsucht des Menschen Krankheiten und Altern zu überwinden. Neu ist also daran nur, dass sämtliche technische und medizinische Möglichkeiten ausgeschöpft werden. Und natürlich ist Longevity ein äußerst lukratives Geschäftsmodell, dass mit der Angst der Menschen vor Krankheiten und vor dem Tod spielt. Für viele geht es dabei um den Verlust der eigenen Bedeutung. Das ist auch die Angst von Bryan Johnson, Millionär und Longevity-Guru aus den USA, wie er kürzlich in einem Interview sagte: „Ich habe so viel in meinem Leben geschaffen, das kann doch nicht einfach weg sein, wenn ich sterbe.“
Den meisten Anhängern der Bewegung geht es eher um ein möglichst langes und gesundes Leben. Aber, für viele Menschen ist der Gedanke an den Kontrollverlust, der mit Krankheiten wie Alzheimer, Krebs oder anderen degenerativen Erkrankungen einhergeht, oft schlimmer als der Tod selbst. Andere wie Johnson streben nichts weniger an als die Überwindung des Todes.
Der Wunsch nach Unsterblichkeit zieht sich durch die Literatur und Popkultur, häufig verkörpert durch finstere Charaktere, die den Tod als Schwäche ansehen. Lord Voldemort aus der Harry-Potter-Saga hat den Longevity-Trend quasi perfektioniert, indem er seine Seele in sieben Teile aufspaltete und sie in sogenannten Horkruxen speicherte – magischen Objekten, die ihm Unsterblichkeit garantieren sollten. Die bittere Konsequenz: Er verliert seine körperliche Existenz und stirbt am Ende doch.
Auch Mary Shelleys Frankenstein experimentiert damit, den Tod zu überwinden, indem er einen künstlichen Menschen erschafft. „Frankensteins Monster“ führt aber letztlich zur Zerstörung seines eigenen Lebens und seiner Beziehungen. Beide Figuren – Voldemort und Frankenstein – symbolisieren die fatale Hybris, die dem Wunsch nach Unsterblichkeit entspringt.
Unsere Leistungen machen uns unsterblich
Für viele Philosophen kommt die Vorstellung von Unsterblichkeit ohnehin der Vorstufe zur Hölle gleich. Martin Heidegger betonte in seinem Werk „Sein und Zeit“, dass der Mensch nur in seiner Endlichkeit wirklich zu sich selbst kommen könne, man solle deshalb seine Endlichkeit nicht verdrängen. Denn nur dann sei authentisches und verantwortungsvolles Leben möglich. Hannah Arendt unterscheidet in „Vita activa oder Vom tätigen Leben“ zwischen biologischer Unsterblichkeit und dem „Unsterblich werden“ durch kulturelle oder kreative Leistungen. Nur Letzteres sei der wahre Weg, um einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Diese philosophischen Theorien stehen in Gegensatz zur Haltung der aktuellen Langlebigkeitsbewegung, die das Streben nach dem perfekten, gesunden Körper und einem ewigen Leben als ultimativen „Life-Hack“, also einer maximalen Effizienzsteigerung betrachtet.
Müssen wir überhaupt noch altern? Longevity-Experte Bryan Johnson glaubt das nicht. Der 47-Jährige hat sich zum Ziel gesetzt, biologisch wieder 18 Jahre alt zu werden. Der Unternehmer hat dafür rund 30 Ärzte und Experten um sich versammelt und unterzieht sich täglich einem strengen Programm. Sein Tag beginnt mit einem grünen Smoothie und rund 100 Nahrungsergänzungsmitteln, darunter Spermidin – ein Naturstoff, der laut einer Studie der Medizinischen Universität Innsbruck den Alterungsprozess verlangsamen soll. Johnson folgt außerdem einer veganen Ernährung, trainiert täglich und geht um halb neun ins Bett. Sein Lebensmotto lautet: „Stirb nicht.“ Der Tod sei nur ein technisches Problem, das sich überwinden lasse.
Doch nicht nur reiche Unternehmer mit zu viel Tagesfreizeit wie Johnson setzen auf diese Methoden. Laut dem Genetikforscher David Sinclair, Professor an der Harvard Medical School, ist es möglich, das biologische Alter durch gezielte Lebensstiländerungen zu verringern. In seinem Buch „Why We Age – and Why We Don’t Have To“ behauptet Sinclair, er habe sein biologisches Alter bereits um zehn Jahre senken können. Er beruft sich auf Erkenntnisse der Zellverjüngung durch Fasten und Kalorienrestriktion. Belege, dass Fasten die Erneuerung von Zellen anregen kann, fanden auch Forscherteams der Columbia University in New York und der Universität Köln unter anderem in Tierstudien.
Natürlich ist es kein Geheimnis, dass ein Lebensstil mit gesunder Ernährung, regelmäßiger Bewegung, ausreichend Schlaf und wenig Stress die Lebenserwartung positiv beeinflusst. Das ist wissenschaftlich hinlänglich belegt. Auch, dass Gesundheit ein wichtiger Faktor für eine gute Lebensqualität ist. Aber auch wenn die Wissenschaft in dem Feld in den letzten Jahren neue Erkenntnisse gebracht hat, bleibt der Alterungsprozess ein äußerst komplexer Vorgang, der auch von genetischen, epigenetischen und Umweltfaktoren beeinflusst wird. Unfälle und unnatürliche Todesursachen sind da noch nicht mit eingerechnet.
Unsterblich sein? Bisher gibt es keinerlei Belege, dass es funktioniert
Bryan Johnson geht deshalb sogar so weit, auch potenzielle Unfälle zu vermeiden: In der ARD-Dokumentation „Alles bloß nicht sterben“ erklärt er, dass er nur vorsichtig Auto fahre und Ski und Snowboard aufgegeben habe – zu gefährlich. Longevity-Anhänger müssen auf vieles im Leben verzichten.
Seriöse Altersforscher bezweifeln den Erfolg vieler dieser Methoden. Der Biologe und Altersforscher Sebastian Grönke, der am Max Planck Institute for Biology of Ageing in Köln forscht, sagt in der ARD-Doku, vieles sei bisher nur an Mäusen getestet worden. Es sei inzwischen möglich, die Tiere „langlebig“ zu machen. Er glaubt durchaus auch, dass es irgendwann beim Menschen möglich sei, mit Medikamenten und Eingriffen, das Leben zu verlängern. Bisher sei das Durchschnittsalter 80 Jahre, die Schallmauer etwa 120 Jahre. „Ob wir die irgendwann durchbrechen, ist nicht abzusehen. Dass wir den Alterungsprozess komplett aufhalten, halte ich eher für Science Fiction“, sagte er der ARD.
Für seriöse Aussagen bräuchte es beim Thema Langlebigkeit viele weitere Langzeitstudien am Menschen. Rein statistisch lebt der Mensch immer länger – er ist aber auch länger krank.
Wer nur optimiert, verpasst viel vom Leben
Dennoch ist der Wunsch, durch alle möglichen Präparate und Technologien immer älter oder wenigstens nicht krank zu werden, unstillbar. Dieser Wunsch tritt vor allem in individualisierten und wohlhabenden Gesellschaften auf, in denen Unabhängigkeit und Autonomie einen hohen Stellenwert haben – ebenso wie der Wunsch nach ewiger Jugend. In einer extremen Leistungsgesellschaft bedeutet Krankheit Schwäche und einen Verlust an Produktivität. Die ewige Jugend ist das Ideal.
Doch das Streben nach einem ewigen und gesunden Leben ist nicht nur eine technische Herausforderung, sondern auch eine Frage der Lebensqualität. Wir können unsere Körper überwachen, optimieren und mit neuesten Technologien unterstützen. Doch dabei laufen wir Gefahr, das zu verlieren, was den wahren Wert des Lebens ausmacht – die Fähigkeit, im Moment zu leben und das Unvorhersehbare zu schätzen.
In der Altersforschung kennt man den Wunsch nach Langlebigkeit und deren Faszination auf Menschen – man weiß aber auch, dass es ebenso auf andere Dinge im Leben ankommt – und nicht nur auf die Gesundheit. Hans-Werner Wahl, Psychologe und Altersforscher an der Universität Heidelberg, plädiert dafür, das Altern differenzierter zu betrachten, also es nicht nur mit Krankheit, Gebrechlichkeit, Einsamkeit, Depression, Demenz in Verbindung zu bringen. „Altern ist nicht nur kognitiver Abbau, nicht nur sozialer Rückzug, nicht nur warten auf den Tod“, schreibt er in „Die Psychologie des Alterns“.
Forscher an der Universität Wien wiederum haben dazu geforscht, wie gutes Altern gelingt. Neben dem Gefühl von „Glück“ sei für ein erfülltes Leben vor allem Sinnhaftigkeit und Erkenntnis relevant – also ein Leben, dass wir als bedeutungsvoll und reich an vielfältigen und interessanten Erfahrungen empfinden.
Der Begründer der positiven Psychologie, Martin Seligman, betonte in seiner Forschung, dass die Lebensfreude nicht nur von der Lebensdauer abhängt, sondern auch von der Sinnhaftigkeit, der persönlichen Entwicklung und den sozialen Beziehungen.
Lebensqualität ist oft wichtiger als die Dauer
Ob ein Leben, das nur darauf ausgerichtet ist, den Körper und sich selbst zu optimieren, um am Ende ein paar Jahre zu gewinnen, auf die Dauer als glücklich und sinnvoll empfunden wird, ist wohl eher fraglich. Ist es nicht doch die begrenzte Zeit, die uns zu den wichtigsten Entscheidungen im Leben antreibt – sei es, die unvergessliche Reise zu machen, ein Buch zu schreiben, Beziehungen zu pflegen oder schlicht bis morgens zu feiern ohne an den Kater am nächsten Tag zu denken?
Während die Wissenschaft also spannende Möglichkeiten bietet, das Altern zu verlangsamen oder gar rückgängig zu machen, bleibt die Frage, ob diese Entfremdung von unserem natürlichen Lebenszyklus wirklich die Antwort auf unsere Ängste vor Tod und Krankheit ist.
Und wer bitte will jeden Tag nur von einem Matcha-Latte und ein paar Vitamin-Drops leben?