Ernst Ulrich von Weizsäcker und Martin Heisenberg sind selbst berühmte Wissenschaftler. In Marbach sprachen sie nun über ihre nicht minder berühmten Väter – die für Hitler einst die Atombombe schaffen sollten und einen Weg fanden, gerade dies zu verhindern. Wie wird man so schlau?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Marbach - Von solchen Motiven liest man eigentlich nur in Familienromanen: 1927 lernten sich der damals 26-jährige Werner Heisenberg und der zehn Jahre jüngere Carl Friedrich von Weizsäcker in Kopenhagen kennen. Beide verband zunächst vor allem eine große Liebe zur Musik und zu den Gedichten Stefan Georges. Daraus wuchs eine lebenslange Freundschaft – und für den noch jugendlichen Weizsäcker eine Lebensentscheidung: Unter dem Einfluss Heisenbergs entschied er sich für die Physik.

 

Rund dreißig Jahre später geht’s gerade umgekehrt zu: Die beiden Söhne Ernst Ulrich von Weizsäcker und Martin Heisenberg sind inzwischen ebenfalls befreundet, die beiden Professorenfamilien mit insgesamt zwölf Kindern eng miteinander verbandelt. Nach seinem Abitur 1959 hat Martin eigentlich erst gar nichts mit den Naturwissenschaften am Hut, er will in die Philosophie. Woraufhin Freund Ernst Ulrich ihn neugierig macht auf das eigene Fach, die Biologie: So wie einst die Väter entdeckten, dass die Grundlagenphysik letztlich die Festen unserer Weltanschauung erschüttern würde und also ohne Philosophie gar nicht zu denken sei, so werde es womöglich in naher Zukunft ähnlich gehen mit der Lehre vom Lebendigen und jenem Organ, das dies Lebendige führt, dem Gehirn. So kam Martin Heisenberg auf die Spur der Taufliege Drosophila und die Frage, in welchem Zusammenhang Gehirnstrukturen und Verhaltensweisen stehen. Er begründete in Deutschland die Neurogenetik.

Diese beiden bedeutenden Gelehrten Martin Heisenberg und Ernst Ulrich von Weizsäcker (vielen Stuttgartern als SPD-Bundestagsabgeordneter von 1998 bis 2005 noch gut in Erinnerung, vor allem aber natürlich ein wichtiger Streiter in der Debatte über den Klimawandel und Co-Präsident des Club of Rome) über ihr eigenes Leben miteinander sprechen zu lassen wäre zweifellos auch schon einen langen Abend wert. Aber das Deutsche Literaturarchiv in Marbach setzte aus Anlass seiner aktuellen Ausstellung „Die Familie“ noch eins drauf: Die beiden Professoren sprachen über ihre Väter, über ihre Mütter, über ihre Kindheit und Jugend, über die Atmosphäre daheim, über die Debatten und das Klima, in dem sie aufgewachsen sind. Was daraus wurde? Eine Sternstunde.

Heidegger kam zum Tee und redete ganz vernünftig

Dem Moderator Wolfgang Riedel gelang es, in der Überfülle möglicher Themen eine gut nachvollziehbare Bahn zu schlagen. Amüsant zu hören, wie die beiden Jungs in den prachtvoll ausgestatteten Stefan-George-Bänden ihrer Väter blätterten und angesichts der dort zu lesenden Sprachwuchtigkeit eher ratlos blieben: „Ich fand da einen Satz: ,Schon eure Zahl ist Frevel‘“, berichtet Ernst Ulrich von Weizsäcker. „Das klang für mich so elitär, das stieß mich völlig ab.“ Oder, ganz ähnlich gestrickt, die Erinnerung an Begegnungen mit dem von beiden Vätern geschätzten Philosophen Martin Heidegger: „Der besuchte meine Eltern zum Tee, und wir Kinder durften dabeisitzen“, erzählt Martin Heisenberg. „Da waren wir dann ganz überrascht, wie normal der sprechen konnte, obwohl er in seinen Büchern immer so unverständliche Worte benutzte.“

Aber just hier ergab sich schon die Brücke zum nächsten, nun wirklich weltbewegenden Schauplatz: Im Tischgespräch verteidigte Carl Friedrich gegenüber den Weizsäcker-Kindern vor allem diese eine Heidegger-Idee: „Um das Sein zu erkennen, reicht es nicht, dies unbeteiligt zu beobachten“, erinnert sich Ernst Ulrich. „Das wirkliche Wahrnehmen erfordert eine Aktion, ein Nehmen.“ Und schon ist man bei der Lebensleistung der beiden gelehrten Väter, die gemeinsam mit anderen die Physik und das 20. Jahrhundert auf jene Grundanschauung hin verpflichteten, dass gerade die Zusammenhänge der Natur ohne die Rechnung mit Auge und Sinn des Betrachters, dem Zufall, dem an sich Unwahrscheinlichen, kurz: der unkalkulierbaren Unberechenbarkeit nicht zu erfassen sind.

Für seine Unschärferelation wird Werner Heisenberg bereits im Alter von 31 Jahren mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Carl Friedrich von Weizsäcker erarbeitet in den Dreißigern wichtiges Material zur Anschauung von Atomkernen und der Energie, die in ihnen steckt. Keiner von beiden verlässt Nazideutschland, obwohl ihre Arbeit, auf den Arbeiten Einsteins fußend, als „undeutsch“ diffamiert wird. Spätestens 1940 stecken sie dann erschreckend tief in der Politik: Sie sollen Hitler mit einer „Wunderbombe“ zum Endsieg verhelfen.

Die Physiker protestierten gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr

Nach heutigem Stand der Geschichtsforschung dürfen jene Physiker, die damals in Deutschland in diesem Projekt zwangsvereint waren, für sich in Anspruch nehmen, die Gefahr erkannt und das Projekt durch gezielten „Erkenntnis-Stillstand“ sabotiert zu haben. „Mein Vater wusste“, sagt Weizsäcker heute, „man kann Erkenntnisse vor diesem Regime nicht geheim halten. Also dürfen wir die Erkenntnisse nicht haben.“ Und Heisenberg ergänzt: „Was sie als das Entscheidende nicht wussten, konnte auch nicht aus ihnen herausgepresst werden.“

Dass Grundlagenwissenschaft ohne Philosophie und Kultur ebenso wenig wie ohne politische Verantwortung und Moral human zu denken ist, erleben die Söhne dann auch 1957, als Heisenberg, Weizsäcker und 16 weitere Physiker im „Göttinger Manifest“ gegen die Pläne des Verteidigungsministers Franz Josef Strauß protestieren, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten. Die Selbstverständlichkeit, sich als Wissenschaftler in das politische Ringen der Gesellschaft um verantwortbare Wege einzumischen, ist den Söhnen eben tatsächlich ein familiäres Erbe.

Man bedauert, als dieses von beiden Seiten völlig unprätentiös geführte Gespräch nach rund hundert Minuten schon ein Ende finden muss. Und freut sich über eine letzte Geschichte von Martin Heisenberg, der berichtet, wie er sich in den siebziger Jahren mit seinem Vater noch einmal über die eigene berufliche Zukunft unterhält. „Wenn ich noch einmal anfangen könnte“, soll Werner Heisenberg da zum Sohn gesagt haben, „ich würde heute in die Gehirnforschung gehen.“ Wie hier einer der wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts offenbar ahnt, welche Leitwissenschaft die Physik schon bald ablösen wird – wäre das die Pointe am Ende eines Romans, man würde sie als Leser womöglich abgeschmackt finden. Aber in der Familie, da ist das so.