Das Institut für Zeitgeschichte präsentiert eine „wissenschaftlich kommentierte Gesamtausgabe“ von Hitlers Hetzschrift „Mein Kampf“. Aber braucht die Welt dieses Werk?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Gleich zum Auftakt des neuen Jahres wird an diesem Freitag in München eine der umstrittensten Buch-Neuerscheinungen seit Langem vorgestellt: die wissenschaftlich-kritische Edition von Adolf Hitlers Kampfschrift „Mein Kampf“.

 

Wie ist das Buch „Mein Kampf“ entstanden?

Am 9. November 1923 scheiterte die NSDAP in München mit einem Staatsstreich; Anführer waren der Ex-General Erich Ludendorff und der Parteiführer Adolf Hitler. Die bayerische Justiz ging außergewöhnlich milde mit den Staatsfeinden und Straftätern um. Hitler wurde wegen Hochverrats gerade einmal zur Mindeststrafe von fünf Jahren Haft verurteilt und im Dezember 1924 nach nur neun Monaten wegen „guter Führung“ entlassen.

Der damals 35-Jährige nutzte seine Haftzeit in der Festung Landsberg zum Verfassen einer autobiografisch geprägten Schrift; er wollte darin seinen Werdegang und seinen Kampf für eine „völkische Revolution“ schildern. Nach seiner Haftentlassung verfasste er mit Hilfe des befreundeten NS-Verlegers Max Amann einen zweiten Teil, der sich stärker der Ideologie und den politischen Zielen widmete.

Wie wurde das Buch verbreitet?

Der erste Band erschien im Juli 1925, der zweite im Dezember 1926 im parteieigenen Franz-Eher-Verlag; die Auflage betrug je 10 000 Exemplare. Da die NSDAP just zu dieser Zeit zahlreiche politische Rückschläge erlitt und auch bei vielen Wahlen schlechter abschnitt als zuvor, war die öffentliche Aufmerksamkeit für das Buch nur begrenzt, auch Kritiken blieben rar. Das änderte sich 1930, als im Verlauf der Weltwirtschaftskrise und wachsender sozialer Spannungen die Nazis große Wahlerfolge erzielten. Der Eher-Verlag reagierte auf das wachsende Interesse an Hitler mit einer nun einbändigen, um mehr als die Hälfte billigeren „Volksausgabe“. Nun erschienen auch Rezensionen, meist aber in der rechtsgerichteten Presse.

Zum „Millionenbestseller“ wurde „Mein Kampf“ nach Hitlers Machtübernahme am 30. Januar 1933. Bis 1945 erschienen zahlreiche, auch textlich überarbeitete Neuauflagen. Das Buch wurde übersetzt und weltweit vertrieben. Verlagsrechte wurden international verkauft, zum Beispiel in die USA. Ab 1936 erhielten auf vielen Standesämtern Brautpaare das Buch als Geschenk der Stadt. Der Historiker Othmar Plöckinger hat für die Zeit bis 1944 eine Gesamtauflage von 10,9 Millionen Stück errechnet. An jedem verkauften Exemplar verdiente der Autor Adolf Hitler zehn Prozent Tantiemen.

Welche Bedeutung hatte das Buch für die NS-Diktatur?

Der fatale Inhalt des Buches ist unbestritten: „Mein Kampf“ war die ideologische Bekenntnis- und Hetzschrift Hitlers, in der er mit einem Haufen an Verdrehungen und Lügen seine eigene Geschichte als „unerschrockener Soldat und politischer Führer“ glorifizierte und offen die menschenverachtenden Grundlagen seines politischen Programms darlegte (siehe dazu Artikel unten). Daher gilt die „Volksausgabe“ von „Mein Kampf“ mit ihrem aufgeprägten Hakenkreuz zu Recht als ein Symbol des NS-Terrors.

Umstritten ist aber die reale Bedeutung des Buches: Der Historiker Plöckinger hat 2006 in seiner Arbeit „Geschichte eines Buches“ die Ansicht vertreten, „Mein Kampf“ sei zwar weit verbreitet, aber wenig gelesen worden. Es war aber auch schlicht schwer lesbar, vor 1933 machten sich selbst Parteifreunde Hitlers über den „kruden, wirren Stil“ des Werkes lustig. Aber es war ein Fehler, deshalb den Inhalt von „Mein Kampf“ nicht ernst zu nehmen. Auch Winston Churchill schreibt später in seinem Werk „Der Zweite Weltkrieg“ über das Hitler-Buch, es sei „schwülstig, langatmig und formlos“. Gleichwohl hätten es Politiker und Militärs „sorgfältiger studieren“ sollen, womöglich wäre der Welt dann vieles erspart geblieben.

Was geschah mit den Büchern nach dem Kriegsende?

Nach dem Einmarsch der Alliierten verschwanden viele „Kampf“-Volksausgaben auf Nimmerwiedersehen aus den deutschen Haushalten, so wie Führerbilder, Parteiabzeichen und Hakenkreuzfahnen. Verboten war sein Besitz aber nie, der Verkauf oder Kauf in Antiquariaten war deshalb nie strafbar. Im Gegenteil: noch 1979 entschied der Bundesgerichtshof, „Mein Kampf“ könne nicht als „Propaganda verfassungswidriger Organisationen“ angesehen werden, weil es zum Zeitpunkt seines Erscheinens das Grundgesetz ja noch gar nicht gegeben hätte. Auch im Ausland wurden „Mein Kampf“-Ausgaben, allerdings zumeist fremdsprachige, verkauft und vertrieben.

Warum es keine Neuausgabe der Kampfschrift gab, lag allein am Urheberrecht. Adolf Hitlers privater Hauptwohnsitz war bis 1945 in München. Nach der Beschlagnahme seines Privatbesitzes durch die US-Behörden gingen auch seine Urheberrechte an „Mein Kampf“ 1949 auf den Freistaat Bayern als Rechtserben über. Dieser untersagte alle Nachdrucke des Buches, teilweise oder als Ganzes. So blieb das Buch aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwunden – abgesehen von einigen Exemplaren für Forschungszwecke in Unibibliotheken. In jüngerer Zeit entwickelte sich allerdings das Internet als Verbreitungsfeld für das Propagandawerk – illegal, aber für Klagen des Rechteinhabers Bayern praktisch unerreichbar.

Wieso kann es nun eine Neuausgabe von „Mein Kampf“ geben?

Das Urheberrecht in Deutschland erlischt 70 Jahre nach dem Tod des Autors, gerechnet ab dem Silvestertag des Sterbejahres. Seit Neujahr 2016 kann darum prinzipiell jeder weltweit die deutschsprachige Ausgabe nachdrucken. Nach Ansicht der Justizminister des Bundes und der Länder vom Sommer 2015 wäre ein solcher Nachdruck zwar verboten, weil das Buch den Tatbestand der Volksverhetzung erfülle. Um dies durchzusetzen, wäre nun aber der Rechtsweg einzuhalten – mit offenem Ausgang. Womöglich würde ein Verbot nur Textteile betreffen.

Die wissenschaftlich-kritische Ausgabe des Instituts für Zeitgeschichte ist keineswegs eine bloße „Neuauflage“. Sie konfrontiert den Text Hitlers mit Quellenangaben und Richtigstellungen. Experten unter Leitung des aus Tübingen stammenden Historikers Christian Hartmann haben drei Jahre lang daran gearbeitet. Der Text wird nun ergänzt mit 3700 Kommentierungen. Das Buch umfasst 2000 Seiten, kostet 59 Euro und erscheint in einer Auflage von 4000 Exemplaren.