Wer schon weiß, was beim Experiment herauskommen wird, lernt nur wenig. Erkenntnis entsteht, wenn man etwas Unerwartetes beobachtet. Der Mediziner Harald zur Hausen musste viele Jahre auf seinen Heureka-Moment warten – er hatte Mut zum Risiko.

Stuttgart - An einem schicksalhaften Tag Ende der 60er Jahre sitzt Harald zur Hausen im Büro seines Chefs und wartet auf ein Gespräch. Um sich die Zeit zu vertreiben, blättert er in einer Fachzeitschrift und stößt auf einen Artikel über Genitalwarzen. In manchen Fällen, liest er dort, entwickeln sich aus diesen Warzen Tumore. Das so unappetitliche Thema fesselt ihn, denn Warzen werden durch Viren ausgelöst: den Papillomviren. Und der junge Mediziner zur Hausen, damals Anfang 30, untersucht schon seit einigen Jahren, ob Viren nicht auch Krebs verursachen können. Hier sieht er einen neuen Ansatz: Die Papillomviren könnten das Erbgut der menschlichen Zellen so stark schädigen, dass diese anfangen unkontrolliert zu wuchern.

 

Diese Idee sollte schließlich zu einem medizinischen Durchbruch führen: zu einer Impfung gegen Krebsviren, der HPV-Impfung, mit der sich Mädchen vor Gebärmutterhalskrebs schützen können. Für seine Leistung wurde Harald zur Hausen mit dem Nobelpreis geehrt. Doch von der ersten Idee bis zur Zulassung der beiden Impfstoffe Gardasil und Cervarix sollten 40 Jahre vergehen. Als sich seine Forschung endlich für Menschen auszahlte, war der Mediziner schon im Ruhestand. Was hat ihn all die Jahre angetrieben? „Große Ungeduld“, schreibt Harald zur Hausen im Vorwort seiner wissenschaftlichen Biografie „Gegen Krebs“. Und eine „gewisse Frustrationsbereitschaft“ müsse man schon mitbringen, schreibt er in einer Broschüre zum Nobelpreis (hier als PDF), denn die meisten Hypothesen würden sich als falsch erweisen. „Mit den Papillomviren – da habe ich Glück gehabt.“

Als Harald zur Hausen seine Experimente mit den Papillomviren begann, wusste man nur wenig über Viren und praktisch nichts über Papillomviren. Es gab keine etablierten Methoden, mit denen man sie untersuchen konnte. Alles, was er in der Hand hatte, waren einzelne Berichte darüber, dass sich aus Warzen Geschwüre entwickelt hatten. Die Beweislage sei „dünn“ gewesen, gibt zur Hausen in seinem Buch zu. Auch wenn sein Fall ein extremes Beispiel ist, zeigt er, warum sich Wissenschaftler auf unsichere Experimente einlassen: Wer immer auf der sicheren Seite bleibt, kommt nicht weit voran.

So wünschte sich Karl Popper die Wissenschaftler

Das ist ganz so, wie es sich der Philosoph Karl Popper vorgestellt hat. Er hat gefordert, dass Wissenschaftler ernsthaft versuchen, ihre Theorien zu falsifizieren. Alles andere würde sie in falscher Sicherheit wiegen. Popper sagte sogar: je leichter falsifizierbar eine Theorie ist, umso besser. Denn eine Theorie, die leicht zu falsifizieren wäre, sich aber im Experiment nicht falsifizieren lässt, ist besonders vertrauenswürdig – in diesem Fall lernt man am meisten.

Im Fall der Papillomviren musste zum Beispiel geklärt werden, ob Viren Warzen hervorrufen können. Der Nachweis ging so: man presst eine Warze durch einen Filter, dessen Poren so fein sind, dass sie keine Zellen durchlassen. Die Flüssigkeit, die den Filter passiert, kann also keine Bakterien und keine Warzenzellen mehr enthalten – aber Viren sind kleiner als Bakterien und kommen ungehindert durch. Mit der filtrierten Flüssigkeit versucht man nun, andere Hautstellen zu infizieren. Einige Mediziner haben das am eigenen Körper ausprobiert, berichtet zur Hausen. Tatsächlich ist das Filtrat infektiös und die darin enthaltenen Viren lösen neue Warzen aus.

Beim Überprüfen einer Theorie sollten Wissenschaftler laut Karl Popper vor allem dort bohren, wo die Theorie am dünnsten ist. In dem Warzenexperiment haben sich die Mediziner darum bemüht, die Erfolgswahrscheinlichkeit klein zu halten, indem sie alles aus den Warzen herausgefiltert hatten, was größer ist als ein Virus. Daher war der Versuch stringent: Wenn die Infektion gelingt, dann können es nach aktuellem Wissensstand nur die Viren gewesen sein. Mit letzter Konsequenz haben die Mediziner das zwar nicht bewiesen, denn es hätte in dem Filtrat noch andere, bisher unbekannte infektiöse Partikel geben können. Aber das Ergebnis ist solide genug, um darauf aufzubauen.

Wurde der Nobelpreisträger für seine Theorie belächelt?

In vielen Medienberichten und auch auf dem Umschlag seiner wissenschaftlichen Biografie steht, dass zur Hausen für seine Theorie der Papillomviren „belächelt“ worden sei. Er stand damit tatsächlich lange allein, doch er galt als guter Wissenschaftler und machte Karriere: Mit 36 Jahren wurde er Professor an der Universität Erlangen-Nürnberg, fünf Jahre später wechselte er an die Universität Freiburg. An beiden Hochschulen leitete er große Forschungsbereiche, bevor er 1983 schließlich Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg wurde. Was ihn bedrückte – und was manch anderen abgeschreckt hätte – war, dass kaum jemand seinen Enthusiasmus für die Papillomviren teilte. Als er in einem Fachartikel dafür warb, diese Viren als Krebsauslöser ernst zu nehmen, reagierten nur wenige Kollegen. Und als er im Dezember 1973 auf einer Tagung die Konkurrenz angriff, die den Krebs auf Herpesviren zurückführte, brach er einen Streit vom Zaun.

Weil Harald zur Hausen Hinweise darauf hatte, dass aus Genitalwarzen manchmal Tumore entstehen, und weil er wusste, dass Warzen durch Papillomviren ausgelöst werden, machte er sich daran, deren Erbgut im Tumor nachzuweisen – eine gut falsifizierbare und kühne Theorie. Die Methoden seiner Zeit erlaubten allerdings nur den Nachweis der DNA, deren Struktur man schon kannte. Daher musste er erst ermitteln, um welche Virentypen es genau geht – und dieser Schritt hat ihn viele Jahre gekostet. Er hätte damit auch scheitern können, und er hatte über Jahre hinweg wenig in der Hand. Doch er ließ nicht locker, bevor er seine Theorie richtig testen konnte: mit der DNA des richtigen Virus. Er zeigt damit, dass auch die Persönlichkeit eines Wissenschaftlers dazu beitragen kann, Theorien zu etablieren. In einem Gesprächsabend in Heidelberg packte er vor das vor einigen Jahren in einen kurzen Satz: „Ob belächelt oder nicht – ich sage Ihnen ganz ehrlich: das war mir immer ziemlich egal.“

(In der Serie bisher erschienen: die wissenschaftlichen Tugenden des Zweifelns und des Überprüfens)