Im 19. Jahrhundert entdeckten Forscher in der Fotografie eine neue, objektive Methode. Ihr Blick war unverfälscht und viele forderten, sich nicht mehr auf das eigene Auge zu verlassen. Doch andere zweifelten an der vermeintlichen Revolution: Zeigen die Fotos wirklich das Wesentliche?

London - Im Science Museum in London hängt derzeit eine Bastelarbeit des Physikers Arthur Worthington aus dem Jahr 1900. Er hat kleine Fotos ausgeschnitten, sie nebeneinandergeklebt und in Schönschrift erläutert. Worthingtons Fachgebiet waren Flüssigkeiten im Allgemeinen und Tropfen und Spritzer im Besonderen. In einer Reihe von zehn Fotos sieht man zum Beispiel, wie eine kleine Stahlkugel in einen Becher Milch fällt. In den ersten Augenblicken erhebt sich ein Gebilde aus dem Wasser, das an eine Krone erinnert: ein Ring mit Tropfen auf dem oberen Rand. Im achten Bild, das 0,068 Sekunden nach dem Aufschlag der Kugel auf der Milchoberfläche entstand, bildet sich in der Mitte der Krone ein dünner Strahl, der nach oben schießt.

 

Worthington war damals Ende 40 und Mitglied der Royal Society. Er hatte mehr zu bieten als ein paar aufgeklebte Fotos. Warum verzichtet er auf jede physikalische Interpretation? Der Physiker lässt die Bilder für sich sprechen und hofft wohl darauf, sein Publikum zu beeindrucken. Ausstellungen mit wissenschaftlichen Fotos waren im 19. Jahrhundert beliebt, weil sie eine neue Perspektive auf die Welt eröffneten: Sie hielten nicht nur flüchtige Momente fest, sondern machten Dinge sichtbar, die für das bloße Auge zu klein oder zu schnell sind. Worthington war zudem von einem weiteren Vorteil fasziniert: der Unbestechlichkeit der Aufnahme.

Noch einige Jahre zuvor hat Worthington im dunklen Labor gesessen und während des Tropfversuchs einen Blitz ausgelöst, der die Szenerie für einen Moment erhellte. Was er in diesem Augenblick sah, versuchte er so gut wie möglich nachzuzeichnen. Nach vielen Spritzern, die er zu unterschiedlichen Zeitpunkten beobachtet hatte, brachte er die Zeichnungen in eine sinnvolle Reihenfolge.

Nichts als idealistische Trugbilder?

Die Wissenschaftshistoriker Lorraine Daston und Peter Galison beschreiben in ihrem Buch „Objektivität“ (Suhrkamp-Verlag, 2007) die Wende in Worthingtons Experimenten. In seinen Zeichnungen hatten die Spritzer immer schön symmetrisch ausgesehen. Zumindest hat er nur diese Zeichnungen in seinen Fachartikeln veröffentlicht – „schon deswegen, weil die gleiche Unregelmäßigkeit nie zweimal vorkam“, wie er in einem seiner Bücher erklärt. Als Wissenschaftler war Worthington an den Gesetzmäßigkeiten der Natur interessiert und nicht an den Besonderheiten und Ausnahmen.

Die Fotos zeigten Worthington aber durchweg unregelmäßige Formen. Das konsequente Fazit des Physikers: Traue deinen Augen nicht, verlasse dich lieber auf die Fotografie! Daston und Galison berichten, dass Worthington Zweifel geplagt hätten, wie es möglich sein könne, „dass die wunderbar symmetrischen Bilder, die er so viele Jahre lang gezeichnet hatte, nichts als idealistische Trugbilder waren“.

Ende des 19. Jahrhunderts formierte sich eine Bewegung über Fachgrenzen hinweg, die der Mechanik und Optik des Fotoapparats mehr vertraute als dem geschulten Blick des menschlichen Beobachters. Fotos, so hieß es, bilden die Natur zuverlässiger ab als der Mensch mit seinen vorgefertigten Theorien, der oft sieht, was er sehen will. Die Ausstellung „Revelations – Experiments in Photography“ (Deutsch: Enthüllungen – Experimente in der Fotografie) in London zeigt noch bis Mitte September die rasante Ausbreitung der neuen Methode. Wenn man die Kamera in den Nachthimmel richtete und die Blende für einige Minuten öffnete, zeigten sich Gebilde, die zu schwach leuchteten, um sie mit dem bloßen Auge zu erkennen. Fotoplatten ließen sich auch mehrfach belichten, um Abläufe im Bild festzuhalten, die für das Auge zu schnell sind – etwa den Sprung eines Hürdenläufers. Und als Wilhelm Conrad Röntgen 1895 die nach ihm benannte Strahlung entdeckte, wurden sogar die Innereien von Lebewesen sichtbar.

Der moderne Forscher nimmt sich zurück

Doch nicht alle waren überzeugt. Nicht nur, weil auch Fotoapparate Macken haben und die Natur nicht perfekt abbilden können. Sondern vor allem, weil die vermeintliche Unverfälschtheit trügerisch sein kann. Den Streit kannte man von den Expeditionen früherer Jahrhunderte. Wie zeichnet man in der neuen Welt eine bisher unbekannte Pflanze: genau so, wie man sie vor sich sieht, also etwa mit einem angeknabberten Blatt, oder wie sie idealerweise aussehen würde? Die originalgetreue Zeichnung einer Pflanze sagt dem Betrachter ebenso wenig wie ein Foto, ob es sich um eine typische Pflanze handelt und auf welche ihrer Eigenschaften es ankommt. Wenn man als Forscher eine Pflanze bestimmen soll, muss man ihre relevanten Merkmale kennen. Ein Zeichner kann sie hervorheben.

Unter deutschen Biologen, berichten die Historiker Daston und Galison, gab es im 19. Jahrhundert sogar handfesten Streit. Ernst Haeckel sagte, dass seine Illustrationen nicht exakt seien, sondern „das Wesentliche des Gegenstands zeigen und das Unwesentliche fortlassen“. Sein Kollege Wilhelm His forderte hingegen von Haeckel „Zuverlässigkeit und unbedingte Achtung vor der tatsächlichen Wahrheit“. Die Frage, ob man idealtypisch zeichnet oder fotografiert, wurde moralisch aufgeladen: Wie hält man es mit der Wahrheit? Daston und Galison sehen einen neuen Typ Wissenschaftler entstehen: einen, der sich nicht auf seine Sinne verlässt und seine Person möglichst aus der Gleichung eliminiert. Einen ähnlichen Streit gibt es heute in der Medizin: zwischen Ärzten, die auf ihre Erfahrung verweisen, und Ärzten, die Studien mit vielen Probanden fordern, um individuelle Besonderheiten auszuschließen und allgemeingültige Aussagen zu ermöglichen.

Die Londoner Ausstellung zeigt auch eine andere, subjektive Seite der wissenschaftlichen Fotografie. Der Brite William Talbot entwickelte eine Technik für Mikroskope, mit der er die oft ästhetischen Formen kleinster Lebewesen fotografierte. Sie schmückten eher Publikums- als Fachzeitschriften. Und der amerikanische Ingenieur Harold Edgerton arbeitete mit Verschlusszeiten, die kurz genug waren für eine Gewehrkugel. Er nutzte seine Technik etwa, um zu untersuchen, wie sich Werkstoffe verformen. Aber er wiederholte auch Worthingtons Tropfversuche, bis er einen schön symmetrischen Spritzer erhielt. Neue Erkenntnisse waren damit freilich nicht verbunden.