Geschwängert und dann durch eine gekaufte Falschaussage ins Elend getrieben? In Zeiten von Metoo wünscht man der Esslinger Inszenierung von Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ jeden denkbaren Erfolg.

Esslingen - Das Bühnendrama, wie wir es seit Jahrtausenden kennen, sei unwiederbringlich tot, erklären uns jene, die daran interessiert sind, dass die spärlichen Subventionen in ihre Projekte statt in die geschmähten Stadttheater fließen. Einer, den man mit einigem Recht zu den überholten Dramatikern zählen könnte, scheint die nicht ganz uneigennützigen Totsagungen freilich standhaft zu dementieren. An ein und demselben Abend sollten innerhalb eines Umkreises von 15 Kilometern zwei „Klassiker“ von Friedrich Dürrenmatt Premiere haben. Erst vor knapp sechs Jahren konnte man am Stuttgarter Schauspiel den „Besuch der alten Dame“ sehen. Einen Monat zuvor hatten „Die Physiker“ an der WLB Premiere. Jetzt übersiedeln „Die Physiker“ nach Stuttgart, und „Die alte Dame“ besucht Esslingen, wo sie beim allsommerlichen Freilichttheater dem Risiko von Regen ausgesetzt ist.

 

Der Wettergott ließ denn ebenso wenig Gnade walten wie Dürrenmatts alte Dame und es zur vorgesehenen Premiere bis fünf Minuten nach deren Verschiebung tatsächlich regnen. Sie fand mit vier Tagen Verspätung statt. Aber auch ohne Intervention des Wetters war die Premiere vom Pech verfolgt. Der Darsteller der männlichen Hauptrolle hat sich wenige Tage davor verletzt. Die Umbesetzung machte weitere Umbesetzungen erforderlich.

Korrumpierbarkeit hat heute den Status der akzeptierten Normalität

Claire Zachanassian – #sieauch. Die Zeitstimmung spricht dafür, dem Rachebedürfnis der gedemütigten alten Dame, die geschwängert und dann durch eine gekaufte Falschaussage ins Elend getrieben wurde, jeden denkbaren Erfolg zu wünschen. Der gegenläufige Strang des verzwickten Stücks, die Korrumpierbarkeit der Güllener Bürger, hat im Vergleich dazu den Status der akzeptierten Normalität. Dass sie den Lehrer Ill ausliefern, dient der Gerechtigkeit. Dass sie dafür Geld nehmen – sei‘s drum.

Sabine Bräuning spielt die Zachanassian im roten Kostüm, mit schwarzen Strümpfen überwältigend und mit der Gelassenheit der eleganten Dame, die weiß, dass Geld alles kaufen kann. Sie bleibt Siegerin. Oliver Moumouris ist als Ill, nicht weniger eindrucksvoll, in Christof Küsters Regie durchweg ein Opfer, ein unschuldig Verfolgter wie Kafkas Josef K. Seine Schuld ist bald vergessen. Die oberflächliche Aktualisierung – Zachanassian lässt ihren Butler mit Gerhard Schröder telefonieren und Kim grüßen, einer ihrer Gatten sieht aus wie Karl Lagerfeld – hätte man sich sparen können, aber das Publikum goutiert den Spaß.

Kurz vor dem Ende sagt der Bürgermeister: „Wir können nicht leben, wenn wir ein Verbrechen unter uns dulden.“ Denkste. Die alte Dame will für ihre Milliarde – nennen wir sie Marshallplan – Gerechtigkeit. Ill wird in Esslingen in eine goldene Staniolfolie verpackt und steht da wie der gekreuzigte Christus. Aus einer Düse strömt Gas. Die Bürger von Güllen fallen tot um. Gerechtigkeit gibt es nur im Theater.

Nächste Aufführungen am 28., 29. Juni