Die Würfel sind gefallen: Bundestrainer Joachim Löw hat Torhüter Bernd Leno, Innenverteidiger Jonathan Tah sowie die Stürmer Nils Petersen und Leroy Sane aus seinem WM-Kader gestrichen. Ist der Kader gut genug für die Titelverteidigung?

Sport: Marco Seliger (sem)

Eppan - Klar ist schon jetzt: Der Bundestrainer Joachim Löw wird bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland auf einigen Positionen die Qual der Wahl an Klassespielern haben. Anderswo hingegen drückt wahrscheinlich der Schuh. Zeit für einen Teamcheck.

 

Der Torhüter

Deutschland, deine Torhüter – wohl auf keiner Position ist die Nationalelf traditionell so gut besetzt, und bei der WM wird das wieder mal nicht anders sein. Der wiedergenesene Manuel Neuer geht als Nummer eins ins Turnier, und nach allem, was im Trainingslager in Südtirol und auch beim Testspiel in Österreich am Samstag (1:2) zu sehen war, scheint klar: Der Kapitän reist in Topform nach Russland. Neuer selbst betonte am Montag, dass er trotz seiner langen Verletzungsgeschichte mit zwei Mittelfußbrüchen unvorbelastet in die WM gehe. „Darüber mache ich mir keine Gedanken. Das Risiko ist wie bei jedem anderen Spieler auch“, sagte er: „Ich bin fest davon überzeugt, dass ich den Belastungen standhalte.“ Zur Not stünde in Marc-André ter Stegen der nächste Weltklassemann parat. Beim FC Barcelona spielte er eine überragende Saison, zudem bewies er im Sommer 2017 beim Gewinn des Confed-Cups, dass in der DFB-Elf auf ihn Verlass ist. Andere Nationen wären froh, sie hätten zumindest einen Keeper vom Schlage Neuers oder ter Stegens.

Die Abwehr

Hinten nicht ganz dicht – so lässt sich der jüngste Auftritt der deutschen Abwehr beim Test in Österreich zusammenfassen. Allerdings gibt es Anlass zur Hoffnung. Zum einen wird der nach seiner Oberschenkelverletzung wiedergenesene Jérôme Boateng aller Voraussicht noch an diesem Dienstag ins Mannschaftstraining in Eppan einsteigen, und zum anderen wird der in Klagenfurt geschonte Mats Hummels bei der WM neben Boateng in der Innenverteidigung auflaufen. Die beiden Weltmeister sind eine Bank, die Ersatzleute Niklas Süle und Antonio Rüdiger ebenso – und rechts daneben hat sich Joshua Kimmich zu einer verlässlichen Größe entwickelt. Kimmich schaffte das, was ihm sowohl beim FC Bayern als auch in der Nationalelf nur wenige zugetraut hätten: Über seinen Vorgänger Philipp Lahm wird kaum noch gesprochen. Über die Linksverteidigerposition dagegen wird heftig diskutiert. Es ist weiter die Schwachstelle der deutschen Elf, die Stammkraft Jonas Hector vom 1. FC Köln untermauerte dies zuletzt mit einem schwachen Auftritt in Österreich. Gut möglich ist es deshalb, dass Joachim Löw bei der WM wie beim Confed-Cup 2017 zumindest in einzelnen Spielen auf eine Dreierkette mit drei gelernten Innenverteidigern und ohne Hector setzt.

Das Mittelfeld

Wenn die Torhüter die Sahneposition der deutschen Elf ist, dann ist das Mittelfeld vielleicht so etwas wie die Kirsche auf der Sahne. Toni Kroos, Sami Khedira, Ilkay Gündogan, Sebastian Rudy und Leon Goretzka auf den zentralen Positionen vor der Abwehr. Dazu Thomas Müller, Mesut Özil, Marco Reus, Julian Draxler und Julian Brandt in der Reihe davor – Joachim Löw hat die berühmte Qual der Wahl aus Klassespielern. Die Weltmeister Kroos und Khedira sind der Motor des deutschen Spiels, und wenn mal einer davon nicht rund läuft, stehen in Gündogan, Rudy oder Goretzka zwei Topleute parat. Für Gündogan und Goretzka, den Confed-Cup Sieger 2017, spricht, dass sie sich auch ohne Probleme im offensiven Mittelfeld zurechtfinden. Dort also, wo sich angesichts der Qualität auf dieser Position nicht einmal ein Profi der Klasse von Marco Reus sicher sein kann, dass er zur Stammelf gehört. Je nach Stärke des Gegners kann der Bundestrainer sein Spiel bei der WM ausrichten. Mal nur mit einem Sechser, mal mit zwei, mal mit drei offensiven Mittelfeldakteuren, mal sogar mit vier. Löw muss vor jeder Partie neu entscheiden, wie er die Mitte gestaltet. Dass daraus stets ein Fluss entspringen kann, scheint angesichts der Qualität gewährleistet zu sein.

Der Sturm

Nils Petersen also ist raus aus der Verlosung, bleiben in Timo Werner und Mario Gomez noch zwei zentrale Angreifer im deutschen Kader. Der Leipziger Werner ist dabei die Nummer eins – dank seiner Schnelligkeit, seines Tiefgangs und der steten Torgefahr, die er auch in seinen vergangenen Länderspielen unter Beweis stellte. Auch Mario Gomez schwärmt stets in den höchsten Tönen von seinem Konkurrenten und betont, dass Werner die Zukunft gehöre. Die kann schon in Russland beginnen, wo der junge Werner allerdings beweisen muss, dass er seine Leistung auch bei einem großen Turnier abrufen kann. Seine starken Auftritte beim Confed-Cup im vergangenen Jahr dürften ihm da Rückenwind geben.

Mario Gomez wiederum wird nicht müde zu betonen, dass er auch mit zehn Minuten Einsatzzeit zufrieden sei. Der VfB-Stürmer ruht in sich, er ist die Gelassenheit in Person – was neben der Erfahrung, der Wucht und der steten Torgefahr seine Pluspunkte sind.

Dabei ist es auch nicht ausgeschlossen, dass Werner und Gomez, je nach Gegner und Spielstand, gemeinsam auf dem Platz stehen – und sich gut ergänzen können. Gomez als Fixpunkt in der Mitte, dazu Werner als personifizierter Turbo um ihn herum: Auch das ist eine Option für Joachim Löw.

Das ist unser Fazit

Wenn es um die Titelreife geht, stellen sich zwei Fragen: Bekommt Joachim Löw sein Abwehrproblem hinten links noch in den Griff – etwa, indem er in Russland auf eine Dreierkette setzt? Und schafft es Timo Werner in seinem ersten großen Turnier unbekümmert so weiterzumachen, wie er es in seinen vergangenen Länderspielen getan hat? Die anderen Positionen sind über alle Zweifel erhaben – Stand jetzt. Formkrisen oder fehlendes Spielglück können während des Turniers allerdings schnell einen Strich durch die Titelrechnung machen. Klar hingegen scheint, dass die Motivation beim Weltmeister – im Gegensatz zum EM-Turnier 2016 – wieder da ist. Die Sinne scheinen geschärft zu sein. Das zeigen schon die täglichen Trainingseinheiten in Eppan, in denen es ordentlich zur Sache geht. Eine große Unbekannte dagegen ist das Mannschaftsquartier im 40 Kilometer vom Moskauer Stadtzentrum entfernten Watutunki, wo es anstelle eines Strandes wie in Campo Bahia 2014 in Brasilien nur einen Fichtenwald und ein paar Hochhäuser in der Umgebung gibt. Die Unterkunft selbst ist ein einfaches Hotel – und keine Wohlfühloase wie die sonnige Appartmentanlage von 2014, was sich während des Turniers noch zu einem Negativfaktor entwickeln könnte.