Ulrich Linke war von 2007 bis 2009 Chef der Fußball-Liga in Katar. Für ihn beruht die Kritik an dem Ausrichterland der Fußball-WM 2022 auf vielen Missverständnissen.

Stuttgart - Vor ein paar Tagen hat Wolfgang Niersbach einen Brief bekommen. Absender war Hassan al-Tawadi. Der WM-Generalsekretär von Katar wollte den Präsidenten des Deutschen Fußball-Verbands (DFB) auf diesem Weg einladen, damit er sich vor Ort selbst ein Bild über die Zustände in dem Ausrichterland des Turniers 2022 machen kann. Denn dazu werden ständig neue Schreckensbilder gezeichnet, zuletzt von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die miserable Bedingungen auf den WM-Baustellen anprangerte – von Zwangsarbeit bis zur Ausbeutung (die StZ berichtete). „Was sich da wirklich abspielt, weiß jedoch kaum einer – auch Amnesty International nicht“, sagt dagegen Ulrich Linke.

 

Er hat von 2007 bis 2009 in dem kleinen Golfstaat gelebt, als er Chef der dortigen Fußballliga gewesen ist. Da hat er Einblicke gewonnen in die Mentalität. Bis heute hat Linke viele Kontakte zu einflussreichen Persönlichkeiten in Katar, die er zuletzt im Mai besucht hat. Er hat auch eine Ahnung, wie eine WM funktioniert. 2006 in Deutschland war er in Diensten der Fifa für die Hospitality verantwortlich. Linke erzählt eine etwas andere WM-Geschichte über Katar als Amnesty International.

Sie fängt so an, dass das Land seit einigen Jahren das Ziel verfolgt, der Mittelpunkt der arabischen Sportwelt zu werden, da die Nachbarn Bahrain mit der Formel 1 und Dubai mit hochkarätigen Tennisturnieren glänzen. „Bei Arabern geht es immer darum, den anderen zu übertrumpfen“, sagt Linke. Deshalb hat sich Katar um die Olympischen Spiele 2016 beworben – vergeblich allerdings. Erfolgreicher waren die Bemühungen um die WM 2022, für die das Land vor drei Jahren den Zuschlag erhalten hat. „Darauf sind dort alle stolz“, sagt Linke, „das Schlimmste wäre, wenn man ihnen die WM wieder wegnehmen würde.“

Dabei haben die WM-Vorbereitungen in der Praxis noch gar nicht begonnen. So sei Katar noch weit davon entfernt, die Stadien zu errichten, sagt Linke. Momentan befinde man sich erst im Planungsverfahren – und deshalb könnten die Leute auch nicht verstehen, dass immer wieder Kritik an den Arbeitsbedingungen auf WM-Baustellen geübt werde. „WM-Baustellen gibt es noch nicht“, sagt Linke.

Für ihn ist das aber nur eines von vielen Missverständnissen. Das nächste betrifft die Katarer selbst. Laut Linke haben sie „die weltweite mediale Sprengkraft einer WM total unterschätzt“. Deshalb hätten sie zuerst auch versucht, die negativen Schlagzeilen über ihr Land zu ignorieren, aber in der Folge habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, „dass das nicht funktioniert und dass man dann schnell als ganz böser Staat dasteht“. In diese Ecke sehen sich die Katarer nun gedrängt. Herausholen soll sie Hassan al-Tawadi. Seine Einladung an Niersbach ist ein erster Schritt.

Wenn der DFB-Präsident dem Ruf folgt, wird er ein Land antreffen, das schon jetzt und damit vor dem Start der WM-Arbeiten einer einzigen Großbaustelle gleicht. So soll 2014 ein gigantischer Flughafen eröffnet werden. Daneben werden gerade ganze Städte aus dem Boden gestampft – und damit fangen dann auch die Probleme an, die Amnesty International in einen Zusammenhang mit der WM gestellt hat. Das stimmt aber nur indirekt, da die Zustände wegen der WM überhaupt erst ein internationales Thema sind.

In Katar leben insgesamt zwei Millionen Menschen. Davon sind jedoch nur 300 000 Katarer. Die anderen 1,7 Millionen sind ausländische Arbeitskräfte – und darunter befinden sich dann wiederum mehr als eine Million Bauarbeiter. Sie stammen aus den ärmsten Ländern der Welt wie Nepal, Sri Lanka oder Indonesien, wo extreme Arbeitslosigkeit herrscht.

In Katar sind sie willkommen, da viele helfende Hände benötigt werden, um die Bauvorhaben voranzutreiben – noch mehr werden es, je näher die WM rückt. Dafür werden durchschnittliche Gehälter von 600 Dollar pro Monat gezahlt. Essen und Unterkunft sind frei. Auch die Ausrüstung wird gestellt – außer der Sonnenbrille, die sich die Arbeiter selbst kaufen müssen. „Um einen solchen Job zu bekommen, würden diese Leute die 4000 Kilometer von Sri Lanka nach Katar im Ruderboot zurücklegen“, sagt Linke.

Amnesty International hat 200 von mehr als einer Million Arbeitern nach den Arbeitsbedingungen im Land gefragt und ist zu dem Schluss gekommen: sie sind verheerend. In der Tat sind die Leute in kasernenähnlichen Gebäuden untergebracht, die auch für Linke spartanisch eingerichtet sind. Nur ein Tag in der Woche ist Pause – freitags. Auch Doppelschichten sind nicht ungewöhnlich. „Sie müssen einiges aushalten“, sagt Linke, „aber ich mache jede Wette, dass 99 von 100 Arbeitern auf gar keinen Fall in ihr Heimatland zurückwollen.“

Das können sie aber auch nicht ohne Weiteres, denn bei der Einreise muss jeder eine Arbeitsvereinbarung unterschreiben, die in der Regel auf zwei Jahre befristet ist. Dieser Vertrag ist bindend und wird von den Baufirmen kaum vorzeitig aufgelöst. Mit moderner Sklaverei, wie der DFL-Präsident Reinhard Rauball kürzlich behauptete, hat das für Ulrich Linke aber nichts zu tun. „Das ist völliger Quatsch.“

Ohnehin beklagt er, dass zu wenig differenziert wird. Beispielsweise werden auch die Sicherheitsvorkehrungen immer wieder als ungenügend dargestellt – ein Vorwurf an die Katarer. Dabei seien die Baufirmen alle aus dem Ausland – aus China, den USA, Frankreich oder wie Hochtief aus Deutschland. Diese Unternehmen würden auch ihre gewohnten Sicherheitsstandards mitbringen, auf deren Einhaltung geachtet werde – am wenigsten von den Chinesen übrigens, sagt Linke. Auf allen Baustellen würden zudem große Warnschilder hängen mit den richtigen Verhaltensregeln. Aber das Problem sei die Vermittlung. „Die allermeisten Arbeiter verstehen die Sprache kaum und haben keinerlei handwerkliche Vorkenntnisse“, sagt Linke, für den das Unfallrisiko deshalb „zwangsläufig höher ist als in Westeuropa“. Aber daran seien nicht die Katarer schuld.

Die Geschichte von Linke wird nicht die letzte über Katar sein. „Das ganze Land muss für die WM präpariert werden“, sagt er. Dazu beträgt der Etat 50 Milliarden Euro – „ein Betrag, der aber kaum reichen wird“. Schließlich muss auch in die Infrastruktur kräftig investiert werden – bis hin zur Errichtung eines U-Bahn-Netzes.

Die Vorbehalte gegen Katar sind groß. Linke weiß das. Die WM 2022 sei „eine Belastung für den Fußball“, hat Niersbach im Oktober auf dem DFB-Bundestag gesagt. Hassan al-Tawadi würde ihn jetzt gern vor Ort vom Gegenteil überzeugen.