Bei einer Podiumsdiskussion unter dem Titel „Menschenrechte ok oder ade“ ist in Ludwigsburg über die Fußball-WM in Katar gesprochen worden.

Ludwigsburg: Andreas Hennings (hen)

Keine zwei Wochen mehr, dann rollt bei der WM in Katar der Fußball. In den zwölf Jahren seit der Vergabe an das Emirat, das kleiner als die Metropolregion Stuttgart ist, wurde „Katar 2022“ stets heiß diskutiert. Doch wie sind die Umstände vor Ort tatsächlich? Und wie ist das vor der WM einzuordnen? Davon handelte am Montag eine abwechslungsreiche Podiumsdiskussion im Scala Ludwigsburg mit Persönlichkeiten aus Sport, Politik und Justiz sowie Experten zum Land und zu Menschenrechten.

 

Die Situation in Katar Dass sich in Katar seit der Vergabe etwas verbessert hat, bestätigt selbst Katja Müller-Fahlbusch von Amnesty International. Sie spricht von Reformen, die in der Golfregion einzigartig und beeindruckend seien. So erhalten Arbeiter über einen Fonds ausstehende Löhne. 174  Millionen US-Dollar wurden so ausgezahlt. Es gibt einen Mindestlohn, die Ausreise von Gastarbeitern wurde vereinfacht, Hitzeschutzmaßnahmen ergriffen. Und seit 2014 dürfen die Beschäftigten offiziell ihren Arbeitgeber wechseln, was vorher unmöglich war. „374 000 haben das seither gemacht“, sagt Müller-Fahlbusch.

Verbunden ist damit das große Aber. Denn die Zahl zeigt den Verbesserungsbedarf. „Und der Fonds macht das Ausmaß des Lohndiebstahls deutlich. Die Dunkelziffer lässt sich nur erahnen“, so die Nahost-Expertin von Amnesty weiter. Die neuen Gesetze würden zudem von der Regierung „konterkariert“. Seit April gäbe es nur ausstehende Löhne für zwei Monate, obwohl teils acht Monate kein Geld floss. Hausangestellte seien jetzt für neun statt drei Monate in Probezeit. Noch immer würden Pässe einbehalten, nicht alle Arbeiter könnten die Firma wechseln. Demonstranten seien noch im Sommer verhaftet und ausgewiesen worden.

Und dann sind da die Toten, deren Anzahl niemand kennt. 15 000 sollen es sein. „Es fehlt der politische Wille, die Umstände zu untersuchen“, kritisiert Katja Müller-Fahlbusch. Ausgegangen werden müsse von hitzebedingten Fällen. Journalist Benjamin Best, der vor Ort recherchierte und betroffene Familien in Nepal besuchte, vermutet zudem viele Suizide. Die Bedingungen hätten sich auch nur auf den Stadionbaustellen verbessert, wo weniger als 30 000 Menschen gearbeitet hätten. „Im Vergleich zu den mehr als zwei Millionen Gastarbeitern im Land.“ Die Idee eines Fonds für Verletzte und Hinterbliebene sei vom Tisch gewischt worden.

Kultur vor Ort sollte akzeptiert werden

Stephan Hildebrandt, der fünf Jahre als Fußball-Talentförderer in Katar wirkte und eine Gastarbeiterin heiratete, berichtet, dass das Emirat teils führend im arabischen Raum sei. Frauen dürften normal Auto fahren, an den Hochschulen würden sie dominieren. „Ich habe nie Menschenrechtsverletzungen mitbekommen. Sonst hätte ich meine Arbeit nicht fortgeführt.“ Seine Frau habe mal mit drei anderen Frauen geklagt und Recht samt einer Entschädigung erhalten. Und: Viele Firmen hätten ihren Sitz im Land ihrer Gastarbeiter. „Katar ist dann mit 51 Prozent beteiligt, greift aber nicht operativ ein.“

Auch für Hildebrandt gibt es jedoch viel Wider. Denn Katar sei mit dem Turnier „positiv ausgedrückt: überfordert“. Es ist aus seinen Augen nicht hoch entwickelt, wie es gerne bezeichnet wird. Jeder Tote sei einer zu viel, und Gastarbeiter dürfen nicht unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten. Es sei jedoch schwierig, mit dem Finger nur auf andere zu zeigen. Bei Fleischfabrikant Tönnies seien die schlechten Bedingungen seit Jahren bekannt, ohne dass sich Grundlegendes ändere. Wichtig sei auch, die Kultur in Katar zu akzeptieren. „Man küsst sich dort nicht öffentlich. Als ich das bei meiner Frau machte, wurde ich auch angesprochen.“ Katja Müller-Fahlbusch unterstützt das. „Kritisch wird es aber, wenn es bestraft wird. Dann ist es eine Menschenrechtsfrage.“

Der Hauptkritikpunkt Einig ist sich die Runde, dass das WM-Vergabesystem des Weltverbands Fifa verändert werden muss. Es müsse Druck, auch aufs Internationale Olympische Komitee, ausgeübt werden, sagt Benjamin Best. „Auch hier sind wir kein Vorbild“, relativiert Christoph Schickhardt, Ludwigsburger Rechtsanwalt für Sportrecht. Steht an der IOC-Spitze doch der Deutsche Thomas Bach. Er ist wenig optimistisch. „Die Funktionäre des Deutschen Fußball-Bundes wollen ihre Ämter bei Uefa und Fifa behalten. Das scheint wichtiger zu sein, als Finger in die Wunde zu legen.“

Wie mit der WM umgehen? Von den 80 Zuschauern gibt am Veranstaltungsende ein Drittel an, die WM nicht verfolgen zu wollen. Auch die Gäste auf der Bühne sind zwiegespalten. „Vorfreude als Fußballfreund“ steht für Staatssekretär Florian Hassler (Grüne) der Situation vor Ort gegenüber. „Ich bin noch im Findungsprozess.“ In Sachen Gas-Lieferung aus Katar betont er, dass die WM nicht dorthin hätte vergeben werden müssen. „Energie ist aber verteilt wie sie es ist. Das musste jetzt schnell passieren, bevor hier die Lichter ausgehen.“

Ex-Nationaltorhüter Timo Hildebrand weiß noch nicht, ob er das Turnier verfolgen wird. „Fußball steht für Fairplay, die WM ist ein Fest der Freude und Liebe. Das ist diesmal nicht gegeben.“ Er schaue aber eben gerne Fußball. Zumal die Sportler nichts für die Vergabe können. Stephan Hildebrandt ist sowieso überzeugt, dass Symbolpolitik nichts bringt. Die Diskussion müsse jetzt dahin gehen, dass Regierung und Industrie bei Öl- und Waffengeschäften handeln. „Katar ist nicht mit China oder Russland zu vergleichen. Hier besteht die Chance, Einfluss geltend zu machen.“ Auch Christoph Schickhardt gewinnt einem Boykott nichts ab. Er setzt auf Wandel durch Annäherung. „Hinfahren, diskutieren, aufrecht zu Standpunkten stehen.“ Zumal Heuchelei mitschwinge. „Zur Zeit von Olympia 1972 und der WM 1974 in Deutschland stand Homosexualität hier auch unter Strafe. Und die Opfer wurden nie entschädigt.“

Die Frage, so Schickhardt, sei: Welchen Maßstab will man in Zukunft? Konsequenterweise dürfe man keine T-Shirts aus Indien kaufen und nicht in die Türkei reisen. „Wenn wir wirklich verzichten, auch bei Öl und Gas, tut es weh. Sind wir dazu bereit?“ In Sachen WM kann das jeder für sich beantworten.