Das deutsche Skisprung-Team sucht vor der Heim-WM in Oberstdorf seine Form – und orientiert sich nicht an der herausragenden Bilanz der Titelkämpfe 2019, sondern an der Realität.

Oberstdorf - Es gibt keinen Grund, nicht mit Stolz, Freude und Zufriedenheit zurückzublicken auf die Ereignisse von Seefeld. Und doch würde Horst Hüttel, der Sportliche Leiter des deutschen Skisprung-Teams, die Ergebnisse der WM 2019 am liebsten streichen – zumindest für die nächsten eineinhalb Wochen. Weil er genau weiß, dass seine Athleten am Höhenflug von damals gemessen werden. Und weil er ziemlich sicher ist, dass Ähnliches, nicht noch einmal zu schaffen sein wird. „Das ist utopisch“, sagt Hüttel vor dem Start der Nordischen Ski-WM in Oberstdorf, „unser Anspruch ist ein anderer.“ Ein realistischer.

 

Vor zwei Jahren holte Markus Eisenbichler den WM-Titel von der Großschanze, ohne zuvor ein Weltcupspringen gewonnen zu haben. Dazu gab es Gold in allen drei Teamwettbewerben (Frauen, Männer, Mixed) sowie Einzel-Silber für Katharina Althaus und Karl Geiger (Großschanze). Im Vergleich dazu sind die Deutschen zuletzt ziemlich aus der Spur geraten. Weshalb Horst Hüttel erklärt: „Unser Ziel ist, in jedem Wettkampf um die Medaillen zu kämpfen.“ Doch selbst das ist alles andere als selbstverständlich – vor allem bei den Frauen.

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Die Skispringerinnen warten in diesem Winter noch auf den ersten Podestplatz, selbst Katharina Althaus flog der jungen, mutigen Konkurrenz zuletzt hinterher. Die Olympiasiegerin und fünfmalige Weltmeisterin Carina Vogt ist nach ihrem Kreuzbandriss noch weit entfernt von ihrer Bestform, wird aber benötigt, um wenigstens Chancen im Mannschaftsspringen zu haben. Andreas Bauer hat die Hoffnung zwar noch nicht aufgegeben, die Geduld des Bundestrainers aber ist vor den Wettbewerben am Donnerstag (Einzel Normalschanze/17 Uhr/ARD) und Freitag (Team Normalschanze/17 Uhr/ARD) ziemlich strapaziert. „Die Zeit des Jammerns“, sagt er, „ist jetzt vorbei.“

Horngacher nimmt seinen Athleten den Druck

Bauers Kollege Stefan Horngacher wählt eine andere Strategie – der Chefcoach der Männer versucht, seinen Athleten vor ihrem ersten Einsatz am Samstag den Druck zu nehmen. Und erinnert an die positiven Momente in diesem Winter. An die Siege von Karl Geiger bei der Skiflug-WM und beim Auftakt der Vierschanzentournee in Oberstdorf, an die Weltcuperfolge von Markus Eisenbichler im November in Wisla und Ruka, an WM-Silber für das Skiflugteam. „Wir können bei der Heim-WM ganz entspannt sein“, sagt Horngacher, „wir haben nichts zu verlieren.“ Ob seine Athleten ihm das glauben? Ist zumindest zu bezweifeln.

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Der Oberstdorfer Karl Geiger, der bei der WM 2005 als Kind die kasachische Fahne ins Stadion trug, hat jahrelang auf die Heim-WM hingearbeitet. Nun will er auch zeigen, was er drauf hat – ohne zu wissen, wie stark er gerade ist. Zuletzt in Rasnov stand Geiger wieder auf dem Podest, es gab zuvor aber auch zwei Wettkämpfe, in denen ihm nicht mal der Sprung in den zweiten Durchgang gelungen war.

Nicht weniger ehrgeizig ist Eisenbichler, der die Spitze zuletzt aber aus den Augen verloren hat. Was an ihm selbst lag, allerdings auch am neuen Überflieger: der Norweger Halvor Egner Granerud gewann in diesem Winter schon elf Weltcupspringen. Er ist der große WM-Favorit, aber nicht unschlagbar. Meint zumindest Horngacher: „Wenn Eisenbichler super springt, hat er sogar die Chance, seinen WM-Titel zu verteidigen.“ Spätestens dann müsste sich niemand mehr Gedanken über die Ergebnisse von Seefeld machen.