In dieser Kolumne berichten StZ-Kollegen außerhalb des Sportressorts, was ihnen zur WM einfällt. Heute schreibt Matthias Schmidt darüber, dass seine Tochter in der ersten Schulstunde fehlen darf – weil das Schauen von mitternächtlichen Fußballspielen gut für die gesamtpersönliche Entwicklung sein kann.

Automobilwirtschaft/Maschinenbau: Matthias Schmidt (mas)

Stuttgart - Sehr geehrte Frau Lehrerin, bitte entschuldigen Sie das Fehlen meiner Tochter J. in der ersten Stunde. Sie hat das 2:1 gegen Algerien angeschaut. Mit freundlichen Grüßen, Matthias Schmidt.“

 

Ja, ich hab’s getan. J. hat das Spiel sehen dürfen. Danach halbwegs ausgeschlafen. Und alle sind zufrieden. Oder?

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin scho au für Bildung, um es mal wie Jogi auszudrücken. Aber wenn die Schule nicht selbst entscheiden mag, ob diese Gymnasialstunde um 7.40 Uhr wirklich so wichtig ist, wie sie eigentlich sein sollte, also unter Umständen sogar wichtiger als ein 2:1 gegen Algerien, dann kann mein innerer Internatsvorsteher auch einfach mal Ruhe geben und die Dinge laufen lassen. „Laisser-faire“, sagt der Franzose.

Und wir müssen die Franzosen scho au ernst nehmen.

Man kann auch beim Fußballschauen viel lernen

Klar, man hätte die Entschuldigung auch ein wenig blumiger formulieren können. Vielleicht schaut man in 40 Jahren so sentimental auf 2014 zurück wie wir heute auf 1974, und dann hängen all die Entschuldigungsbriefe im Haus der Geschichte vielleicht neben der ersten iPad-App der Stuttgarter Zeitung und den Protestzetteln vom S-21-Bauzaun, und da wäre es schon anrührender, man hätte „Sie konnte Herrn Schweinsteiger in der schweren Stunde der Verlängerung einfach nicht im Stich lassen“ geschrieben. Aber ist jetzt egal.

Bildung ist ein weites Feld, und man kann auch beim Fußballschauen viel lernen. Oft merken die Kinder erst viele Weltmeisterschaften später, wie wichtig das eine oder andere Spiel für ihre gesamtpersönliche Entwicklung gewesen ist. Meine Tochter J. (fast 13), die Nummer drei von dreien, hat da noch Luft nach oben. Sie hat ja noch nie freiwillig auch nur eine Minute „Sportschau“ gesehen.

Nächtliche Spiele verdeutlichen den Wert gesunden Schlafs

Was das Algerienspiel fürs Leben gelehrt hat? Drei Dinge. Erstens: Basisdemokratie hat nicht nur Vorteile. Wenn sich beispielsweise vier Mittelfeldspieler fünf Freistoßtricks überlegen und nach eigenem Gutdünken ausführen dürfen, sollte zumindest der Mannschaftsarzt dabei sein.

Zweitens: Pressefreiheit ist ein besonderes Gut. Reporter dürfen prinzipiell alles fragen. Sie dürfen auch den völlig erschöpften Sieger fragen, wie er sich seine schwache Leistung erklärt. Sie müssen dann nur damit rechnen, dass ihnen der Spieler drei Tage in der Eistonne empfiehlt.

Drittens: Mitternächtliche Spiele verdeutlichen heranwachsenden Menschen den Wert gesunden Schlafs. Diese Mischung aus Dumpf- und Trägheit, die sich am nächsten Tag über das Siebtklässlergemüt legt; dieser latente Druck hinter der Stirn und die quälende Frage, ob sich das gelohnt hat, nur wegen dieses Fußballspiels . . . das sind Fragen, die einen noch ein ganzes Erwachsenenleben begleiten.

Der Abiball ist noch emotionaler als eine Fußball-WM

Viel existenziellere Schul-WM-Dramen spielen sich übrigens fünf Klassen höher ab. Hintergrund: der Abiball. Das einzige Event, das neuerdings noch stärker mit purer Emotion aufgeblasen wird als eine Fußball-WM. Der Jahrgang von Tochter E. (17) steuerte auf ein fast schon sokratisches Dilemma zu: Wäre Deutschland Gruppenzweiter geworden, dann wäre das potenzielle deutsche Viertelfinale auf den Abiball-Termin gefallen. Ui, da hat der What’s-App-Server aber gerattert! „Abiball ist nur einmal im Leben. Das lasse ich mir nicht von Fußball kaputt machen“, schrieben die einen. „Dann bleiben wir eben ganz weg!“, konterten die anderen. Auf beiden Seiten beide Geschlechter vertreten, wenn auch nicht ganz gleichmäßig verteilt.

Zum Glück ist es gut ausgegangen.

Tochter J. hat sich nach dem 1:0 übrigens den Rest der Verlängerung geschenkt. Aber das muss sie selbst mit ihrem Gewissen aushandeln. Von mir gibt’s da keine Entschuldigung.