Im letzten Teil seiner WM-Serie erinnert Oskar Beck an die alten Sturmhelden Gerd Müller und Uwe Seeler. Sie und andere waren seine großen Vorbilder.

Stuttgart - Vor einiger Zeit gab es die Werbekampagne „Sie lieben Sport?”, und ihr Blickfang war ein Grabstein, in den ein Fußball graviert war und der Vermerk: „Paul Mücke. Eingewechselt 28.01.1939. Ausgewechselt 13.10.2002.“ So viel Witz, werden viele sagen, gehört nicht auf den Friedhof, aber um dem Vorwurf der Pietätlosigkeit die Schärfe zu nehmen, gehen wir jetzt einfach davon aus, dass die Grabschrift der letzte Wunsch des Verblichenen war, weil er ein glückliches Leben als Fußballer hatte.

 

War Paul Mücke Mittelstürmer?

Er hätte dann gerade noch in der richtigen Zeit gelebt – damals, als die klassischen Sturmspitzen noch unbehelligt ihre fulminanten Fallrückzieher, haarsträubenden Hinterkopfbälle, eiskalten Abstauber, knallharten Kopfballtorpedos und sonstigen gnadenlosen Gewaltakte vorführen durften und unter den Pseudonymen „Strafraumschreck“, „Sturmtank“, „Vollstrecker“, „Brechstange“, „Bomber“, „Knipser“ oder „Kopfballungeheuer“ die Welt in Atem hielten.

Heute? Die Revolutionäre des modernen Fußballs greifen zu den Waffen, Tiki-Taka heißt ihre Philosophie, und mit ihren „falschen Neunern“ wollen sie den alten Neunern an den Kragen. Als Sargnagel fällt uns außer Pep Guardiola spontan Mehmet Scholl ein, der als TV-Experte bei der letzten EM Mario Gomez, den Torjäger der Nation, zum lauffaulen Sack erklärt hat – worauf die Traditionalisten schimpften: Mein lieber Scholli, warum gibst Du Deinen Senf ab über die Dinge im Strafraum, in den du dich früher gar nicht hineingetraut hast – warum kommt stattdessen nicht ein wahrer Experte zu Wort, der größte?

Warum fragt keiner Gerd Müller?

Der hätte geschwind erklärt, was ein Torjäger tun muss, und zur musikalischen Untermalung seinen autobiografischen Schlager vorgetragen: „Dann macht es bumm, ja und dann kracht’s, und alles schreit: Der Müller macht’s! Dann macht es bumm, dann gibt’s ein Tor, und alles schreit dann: Müller vor!“

Vor, nicht zurück. Vorne fallen die Tore. „Kleines dickes Müller“, wie ihn sein Entdecker Tschik Cajkovski getauft hat, hatte viel zu kurze Beine, um weit zu laufen. Im gegnerischen Strafraum hat er sich ausgeruht und nicht vom Fleck gerührt, aus Angst, dass ihm sonst einer jener Querschläger oder Abpraller entgehen könnte, die er dann mit der Hüfte oder dem Hintern vollends aus zweieinhalb Metern ins Tor verlängert oder gestolpert hat.

Wer verlangt hätte, dass Müller einen Schritt nach hinten macht, wäre in eine geschlossene Abteilung eingeliefert worden. Vorne war sein Jagdrevier, dort hat er als torhungriger Allesfresser allein 1970 bei der WM in Mexiko zehn Stück geschossen. Der „Bomber der Nation“ hat sich nie auf die Flügel verirrt. „Wo bin ich?“, hätte er da draußen als hilflose Person den Linienrichter fragen müssen. Keinen Schritt zu viel hat Müller gemacht, er wollte nicht das Aufbauspiel der eigenen Mannschaft stören – gemüllert hat er, sonst nix, und die Fans haben in Leserbriefen gebettelt: „Von mir aus kann er sich auch 89 Minuten lang im Strafraum die Brusthaare zupfen, Hauptsache, er macht das Tor.“

Aber reden wir über den, der das Bild des klassischen Mittelstürmers wie kein anderer geprägt hat: Uns Uwe.

Uns Uwe? „Euch Uwe“ sagen sie in St. Pauli, bei der anderen Hamburger Feldpostnummer, aber auf jeden Fall ist er mein Uwe – und zwar seit jenem unfassbaren Vorfall gegen Westfalia Herne 1960, als er in einem Endrundenspiel um die Meisterschaft beim Luftkampf mit Nationaltorwart Hennes Tilkowski auf den Hintern fiel und sich mit einem derartig rätselhaften Fallrückzieher aus der aussichtslosen Lage befreite, dass in der Zeitung stand: „Das Tor des Jahrhunderts.“

Ein Fallrückzieher im Sitzen, auf zwei Backen – der Fußballbub B. hat sich das Foto ausgeschnitten und in sein Erdkundebuch geklebt, aber bald ist es darin eng geworden, denn andere Tore als solche, die man unbedingt ausschneiden musste, hat mein Uwe gar nicht geschossen – sobald der Dicke auf der vollen Breite und Höhe des Strafraums explodierte, drohte ein Kracher unter die Latte, mindestens aber ein Kopfballtorpedo.

„Lieber Uwe“, hat ihm Sir Bobby Charlton zum 75. Geburtstag gratuliert, „es war immer ein Vergnügen gegen dich, wenn du nur nicht diese berühmten Tore geköpft hättest.“ Wie in Leon 70. Da katapultierte Uwe seine 168 Zentimeter in die Luft, bediente sich des Hinterkopfs, und Sir Bobby und die Engländer packten ihre WM-Koffer. Wo andere für ihren Ballzauber zwei Füße benötigten, genügte bei Uwe dieser eine, unvergleichliche Kopf.

Seeler und Müller haben bei jener WM übrigens wunderbar harmoniert, wie schon anno 66 die Dortmunder Siggi Held und Lothar „Emma“ Emmerich, der mit seiner linken Klebe jenen bis heute unerklärlichen WM-Volley von der Torauslinie ins spanische Lattenkreuz hämmerte. So ein perfekter Partner war für einen Stoßstürmer der alten Schule das Tüpfelchen aufs i, aber es durfte gerne auch ein Verteidiger sein – als „Kopfballungeheuer“ bedankte sich Horst Hrubesch bei Manfred Kaltz einmal mit dem legendären O-Ton: „Manni Banane, ich Kopf – Tor!“

Verdammt abhängig vom Nachschub sind sie, diese Neuner da vorne am Ende der Chancenverwertungskette. Wenn sie nicht mit Bällen gefüttert werden, hängen sie in der Luft. Jede Ladehemmung wird dann penibel aufgelistet, die Flauten minutiös festgehalten, und die Ungeduld gipfelt in Hohn und Spott – vor der letzten WM war Miroslav Klose schier reif für die Couch samt Hypnose. Kein Tor hat er mehr geschossen, keinen Salto mehr geschlagen, und seine Körpersprache glich der eines Hundes, der die Schlappohren hängen lässt. Frei vor dem Kasten hat sich Klose sozusagen beim Grübeln den Finger in der Nase gebrochen, obwohl Bomber Müller schon vor dreißig Jahren warnte: „Vor dem Tor derfst net das Studieren anfangen.“

Aber auch Müller hatte seine Dürre- und Tolpatschzeiten. Oder Jupp Heynckes, und später Jürgen Klinsmann und Oliver Bierhoff – bei Rudi Völler wurde eine Torflaute sogar mit dem Ohrwurm „Was ist bloß mit Rudi los?“ musikalisch begleitet. Dieter Hoeneß, der „Schwabenpfeil“, litt ebenfalls unter Schützenpausen. Doch wehe, der Knoten platzte wieder, dann schlug der Ulmer Fürchtenicht mit seinem hohen Scheitel zu. Er hatte einen eisernen Willen, sogar einen Flugkopfball gegen die Bordsteinkante hätte er überlebt. Trotz kleiner Holprigkeiten (sein früherer VfB-Mitspieler Helmut Dietterle: „Wenn du Doppelpass mit ihm spielen willst, musst du ihn anschießen“) schaffte es Hoeneß bis ins WM-Finale 1986, und seine bloße Anwesenheit versetzte die Argentinier, die im Aztekenstadion schon 2:0 führten, derart in Panik, dass das Spiel nochmal so gut wie kippte.

Nein, Tiki-Taka auf Höhe der Grasnarbe war das nicht. Dafür konnte man mit solchen Kalibern notfalls einen Luftangriff starten und verlorene Spiele umbiegen. wie im EM-Halbfinale 1976 in Belgrad. Die Jugoslawen führten 2:1, da kam in der 79. Minute der Kölner Debütant Dieter Müller. Der Rest ist schnell erzählt: 2:2 Müller. 3:2 Müller. 4:2 Müller. Uns Deutschen war jede Brechstange immer willkommen, im EM-Finale 1980 gelang dem Hünen Hrubesch der entscheidende Doppelschlag, und im Endspiel 1996 machte es Bierhoff genauso.

Es sind diese Tore, die sich der Fußball in die Gedenksteine der Ewigkeit meißelt – aber die Vollstrecker hatten immer auch noch ihre besonderen Feinheiten auf Lager, vom aus der Hüfte geschüttelten Scherenschlag bis zum unter die Latte gedonnerten Fallrückzieher. Klaus Fischer hat diesbezüglich die Genialität gerne mit dem Wahnsinn verknüpft und den Verstand durch den Instinkt ersetzt. Einmal gelang ihm als Akrobat schööön gegen die Schweiz so ein Kunstschuss zum „Tor des Monats“, „Tor des Jahres“, „Tor des Jahrzehnts“ und „Tor des Jahrhunderts“ – und als er im WM-Halbfinale 1982 gegen Frankreich, der sagenhaften „Schlacht von Sevilla“, eine ähnliche Luftikusnummer folgen ließ, ergab sich der Titel seiner späteren Biografie von selbst: „Fallrückzieher und mehr.“

Auch in 100 Jahren, wenn Fischer nicht mehr waagrecht in der Luft liegt, wird die Fußballwelt noch von ihm schwärmen. Oder von Uns Uwe und Bumm-Bumm-Müller. Und auf Hrubeschs Grabstein wird stehen: „Manni Banane, ich Kopf – Tor!“ Wenn es eng wird, hilft kein falscher Neuner, dann müssen richtige Männer her.