Von Fußballgöttern und Ästheten – unsere WM-Serie entführt in die schillernde Vergangenheit des Fußballs.

Stuttgart -

 

Wenn Herbert Grönemeyer nicht Sänger und Schauspieler geworden wäre, hätte er es vermutlich mit seiner drittliebsten Kunst versucht: „Mein Traum“, sagt er, „war es immer, Fußballer zu sein. Einmal eingewechselt werden vor 50 000, dann ein guter Trick . . .“

Wer so viel Herz hat, den belohnt der Fußballgott. Eines Abends kreuzte bei einem Grönemeyer-Konzert Felix Magath auf, schenkte dem Musiker ein Trikot mit der „10“ und sagte: „Du bist der richtige Kracher für diese Position.“

Magath war selbst so ein Kracher, also einer dieser fleischgewordenen Träume aller Ästheten. Als HSV-Feingeist konnte er jeden Trick und Zuckerpass, er war mit dem Ball per Du und laufstark, hatte Augen vorne und hinten und konnte ein Spiel lesen, aber auch entscheiden. Und weil der glückliche Felix das alles konnte, trug er auf dem Rücken diese Zahl, die schon in den alten Schriften des Spiels erwähnt ist als Erkennungsmarke der genialen Strategen und großen Feldherren.

Wir reden vom Zauber der „10“.

Der ging so weit, dass diese Nummer früher nur tragen durfte, wer in der Lage war, den Spielwitz mit dem Torinstinkt und die Genialität mit dem Wahnsinn zu verbinden – wie Pelé. „Sogar der Ball bat Pelé um ein Autogramm“, hat in jener glorreichen Zeit ein nach Luft japsender brasilianischer Reporter verkündet und vermutlich den Endspielball von 1958 gemeint. Die Krönung des Zaubers war dieser Wunderknabe mit der „10“ und Schuhgröße 38. Es waren die Latschen eines großen Kindes. Er war 17.

Wenn Fußball zur Kunstform wird

Pelé war das achte Weltwunder. Als fußballverrückte Buben haben wir uns diesen Edson Arantes do Nascimento fehlerlos auf der Zunge zergehen lassen. Er schlug die besten Haken, die perfidesten Freistöße, die filigransten Pässe, er hantierte beidfüßig und hielt zum Kopfball die Stirn hin. Die Sturmspitze hieß Vava, und Pelé zelebrierte vor, hinter und neben ihm, mit seinen Blitzpässen hat er sich sogar oft genug selbst bedient und furztrocken vollendet. Als er am Ende des Tages Weltmeister war, heulte er an der Brust von Torwart Gylmar Rotz und Wasser, und Mutter B. musste ihrem Buben daheim eine „10“ auf ein Turnleibchen nähen.

Aber mitten hinein in meine Begeisterung ist der Vater mit dem Machtwort geplatzt: „Der Fritz konnte das alles auch.“

Exakt in jenen historisch wertvollen WM-Tagen anno 58, als Pelé sich krönen ließ zum König in der Zentrale der Offensive, hat sein Vorgänger abgedankt. Fritz Walter war 38, und die meiste Zeit davon hatte er verbracht als die Verkörperung des klassischen Zehners (auch wenn er versehentlich meist mit der „8“ auflief), als Stratege, Ballverteiler und Schütze – „meisterhaft hat er einem Spiel seinen Stempel aufgedrückt“, pflegte Sepp Herberger zu sagen.

In die Heldengalerie des Weltfußballs hat es der Pfalzgraf vom Betzenberg geschafft, obwohl er das Berufsrisiko vieler Künstler teilte – er konnte an sich zweifeln, ja mitunter geradezu verzweifeln unter dem Druck der Verantwortung. Doch Herberger, der Bundestrainer, fand das Rezept: Er legte seinem grandiosen Grübler den sorglosen Helmut Rahn auf die Bude, den „Boss“, eine Stimmungskanone. „Helmut“, sagte der Chef, „baue Se mir den Fritz auf.“ Also hat der Boss die Ungarn vor dem WM-Endspiel 1954 tagelang kleingeredet – und als am Mittag auch noch Walters Lieblingswetter einsetzte, kurz: es schiffte, tönte der Boss: „Fritz, die putzen wir weg.“ Der Rest ist bekannt.

Luxusprobleme

Dass in jenen Zeiten das Fernsehen seinen Siegeszug antrat, lag an dieser mitreißenden Fußballkunst, und die Zeitlupe hat man dann auch bald erfunden, um die Welt in den vollen ästhetischen Genuss dieser Ideengeber, Pelés und Alleskönner zu bringen, die mit ihrem peripheren Blick und dem Gefühl für den Raum auf alle Fragen eine Antwort hatten, vom aus der Hüfte geschüttelten Scherenschlag bis zum tödlichen Steilpass oder einem finalen, in die Dreiangel geschnibbelten Freistoß.

Auch Alfredo di Stefano, der „Blonde Pfeil“, war so ein Denker, Lenker und Henker. Der Aktionsradius des Argentiniers war grenzenlos, er war der Drahtzieher aller Angriffsmanöver des „weißen Balletts“ von Real Madrid, das von 1956 bis 1960 fünfmal Europacupsieger wurde. Diese seltene Mixtur aus raumgreifender Eleganz, allgegenwärtiger Dominanz und kaltschnäuziger Torgefahr hat man erst wieder bei Johan Cruyff erlebt. Der Holländer war offiziell Mittelstürmer, regierte als „König Johan“ mit der „14“ auf dem Buckel aber überall, servierte wie auf dem Tablett seine Pässe, bestimmte das Tempo, schlug vorne zu, und Weltmeister ist er 1974 nur deshalb nicht geworden, weil Bundestrainer Helmut Schön vor dem Endspiel zu seinem Terrier sagte: „Na, Berti?“ – „In Ordnung, Herr Schön“, nickte Berti Vogts. Es lag aber auch an Wolfgang Overath, den man den „linken Fuß von Kölle“ nannte und über den eine brasilianische Zeitung schrieb: „Er hat die Grazie einer Primaballerina und die Intelligenz eines Einstein.“ Jedenfalls war er so gut, dass wir Deutschen in der Schaltzentrale eines Tages ein Luxusproblem bekamen: Overath oder Netzer?

Der „King vom Bökelberg“

Günter Netzer war einen Hauch genialer, aber an seinen schwächeren Tagen, meckerte ein Kritiker, „ist er ein Rolls-Royce mit dem Motor eines Rasierapparats“ – während Overath schwache Tage nie hatte und keine Drecksarbeit scheute. „Der Wolfgang“, sagte Beckenbauer, „reißt uns immer mit.“ Vor allem bei der WM 1966 läuteten angesichts des Mittelfeldtrios Beckenbauer-Haller-Overath die Kirchenglocken, ergriffen vom Hauch der Einmaligkeit legten die Engel die Harfen beiseite – aber die beeindruckendste Erinnerung ist ein Foto aus der 120. Minute des Wembley-Finales: Beim letzten Konter der Engländer, zum 4:2, rannte nur Overath noch einmal mit heraushängender Zunge mit nach hinten.

Netzer lief kraftsparender, war als „King vom Bökelberg“ aber stets großes Kino. Er war der erste Popstar des Fußballs, mixte in seiner Disco Lovers Lane feuchte Drinks, wurde umzingelt von schönen Frauen, und wenn er mit flatternder Mähne aus der Tiefe des Raumes kam und mit Schuhgröße 47 gegen den Ball trat, ging die Luftpost ab: Netzers weite Pässe standen für die neue deutsche Weltoffenheit, er schlug sie hemmungslos und liberal, da blieb nichts übrig von der spießigen Enge der Nachkriegszeit. Spielmacher war gar kein Ausdruck – er war unser Playboy.

Wenn Fußballer Diven gleichen

Die Genies hatten noch freie Hand. Exzentrisch und extravagant durften sie sein, oder streitbar wie Bernd Schuster. Der schwebte als „Blonder Engel“ über das Feld, alles sah mühelos aus, er schüttelte den Ball aus dem Fußgelenk, und wenn man Schuster sagt, darf man auch Hansi Müller nicht weglassen – aber vor allem nicht die Torhungrigen unter den Zehnern, wie Michel Platini und Zico, und am allerwenigsten Diego Maradona. Schon mit 16 war „El Pibe de Oro“, der Goldjunge, alt genug für das Lob der argentinischen Trainerlegende Cesar Luis Menotti: „Was Diego mit den Füßen kann, schaffen wir Sterblichen nicht einmal mit den Händen.“ Später gründeten seine bekennendsten Jünger zu Ehren ihres Heiligen sogar eine eigene Kirche, die „Iglesia Maradoniana“, wobei sie nicht das „Dios“ benutzen, das spanische Wort für Gott, sondern „D+10+S“ – die „10“ steht für Maradonas biblische Rückennummer.

Eine Primadonna war er auch. Gelegentlich passte ihm der Wurstbelag auf dem Halbzeitbrötchen nicht, und er hat gerade noch rechtzeitig aufgehört – als abzusehen war, dass die Narrenfreiheit im neuen Disziplinfußball keinen Platz mehr hatte. Die Räume wurden enger. Antrittsschnelle Dynamiker wie Lothar Matthäus oder ehemalige Flügeldribbler wie Pierre Littbarski schlüpften plötzlich ins Hemd mit der „10“ und gruben den klassischen Zehnern das Wasser ab. Der Letzte war Zinedine Zidane. Seine Hüftschwünge erinnerten an Marilyn Monroe in „Manche mögen’s heiß“. Aber irgendwas stimmt nicht mehr. Denn dieser geborene Zehner trug bei Real plötzlich die „5“ – also ein Trikot, das zu Zeiten unseres unvergessenen Ausputzers Willi Schulz noch als Knochenbrecher- und Holzfällerhemd verteufelt worden war.

Die glorreichen Zehner gaben die Löffel ab. Ronaldinho hat noch mal aufbegehrt, doch der Realismus des Taktikfußballs trieb auch den letzten Paradiesvogel in die Flucht. Heute regieren im Mittelfeld die „6er“ oder „Doppel-6er“, und jeder Nostalgiker ist froh, dass es wenigstens Mesut Özil noch gibt – und ein paar Linksaußen und Vollblutstürmer, denen pingelig betrachtet die „10“ gar nicht zusteht, die aber Wert darauf legen, wie Lionel Messi und Zlatan Ibrahimovic.

Oder Neymar. Der Brasilianer trug lange die „11“, aber dann soll es mit seinem Nationaltrainer Luis Felipe Scolari zu folgendem Dialog gekommen sein. Neymar: „Warum trägt Oscar die 10?“ – Scolari: „Er ist unser Spielmacher.“ – „Aber ich bin Neymar“, hat Neymar ungefähr geantwortet. Also bekam er die „10“.

Der Mythos lebt.