Ob Oranje-Spuckattacke, kaiserlicher Wasserkasten-Tritt oder finaler Spaziergang im Mondschein. Die glanzvollen Erinnerungen an einen magischen WM-Sommer 1990 in Italien leben zum Titel-Jubiläum wieder auf. Kapitän Matthäus muss sich immer noch rechtfertigen.

Berlin - Auf dem Höhepunkt der magischen Nacht in Rom schritt Franz Beckenbauer über den Rasen des Olympiastadions. Alleine. Die Hände in den Hosentaschen. Die Gedanken scheinbar in weiter Ferne. Dieses Bild des im Mondschein einsam sinnierenden Kaisers hat sich ins deutsche Fußball-Gedächtnis eingebrannt. Beckenbauer hatte Deutschland an jenem 8. Juli 1990 wieder zum Weltmeister gemacht.

 

Den Jubel seiner Spieler von Kapitän Lothar Matthäus bis zu Siegtorschütze Andreas Brehme und der Fans im schon abgedunkelten Stadion schien der Teamchef zu ignorieren, als Deutschland - kurz vor der Wiedervereinigung - den dritten Gewinn der WM-Trophäe nach dem Wunder von Bern 1954 und dem Heimerfolg 1974 feierte.

24 Jahre sollte Deutschland auf den nächsten WM-Titel warten

Ein wundervoller italienischer Sommer, „Un’ estate italiana“, wie in der WM-Hymne von Edoardo Bennato und Gianna Nannini besungen, hatte einen schwarz-rot-goldenen Glanz bekommen. Einen Glanz, der sogar Beckenbauer zu einer Fehleinschätzung verleiten sollte. „Wir sind jetzt schon die Nummer eins in der Welt. Wir werden über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein. Das tut mir leid für den Rest der Welt“, prahlte der scheidende Teamchef - und irrte ausnahmsweise mächtig.

24 Jahre sollte Fußball-Deutschland bis zum glorreichen Abend von Rio de Janeiro im Sommer 2014 auf den nächsten WM-Triumph warten müssen. Auf den Titel 1990 folgte sogar das schlechteste WM-Jahrzehnt. Zweimal nacheinander, 1994 und 1998, kam das Aus im Viertelfinale - das hatte und hat es in der Historie für den erfolgsverwöhnten DFB bei 18 WM-Teilnahmen nie gegeben.

Für Pessimismus gab es in der römischen Nacht keinen Grund. Bundeskanzler Helmut Kohl feierte mit, das belegen, obwohl es noch keine Selfies á la Angela Merkel gab, Fotos aus der Kabine. Überzeugend hatte Deutschland den WM-Pokal gewonnen - auch wenn der 1:0-Finalsieg gegen Argentinien durch das späte Elfmetertor von Brehme eines der schlechteren Spiele gewesen war.

Matthäus muss sich noch heute rechtfertigen, dass er nicht zum Strafstoß antrat. Schuhprobleme hinderten ihn, beteuert der DFB-Rekordnationalspieler und beschreibt seinen Verzicht als „kluge und weise Entscheidung“. Brehme berichtete später von der wichtigsten Szene seiner Karriere: „Rudi Völler ist noch zu mir gekommen und hat gesagt: ‚So, den machst du jetzt rein, dann sind wir Weltmeister.’ ‚Na, schönen Dank’, antwortete ich. ‚Ich werd’s mir zu Herzen nehmen.’“ Brehme nahm Anlauf und traf - flach ins linke Eck.

Furios war der Turnierauftakt mit dem 4:1 gegen Geheimfavorit Jugoslawien inklusive eines Sololauf-Traumtores von Matthäus gewesen. Es folgten ein 5:1 gegen die Vereinigten Arabischen Emirate und als das Weiterkommen praktisch feststand ein 1:1 gegen Kolumbien.

Man durfte als Gruppensieger in Mailand bleiben, wo es gegen die Niederlande zum legendären Achtelfinale samt Spuckattacke von Frank Rijkaard und Platzverweis für das „Oranje-Lama“ und den unschuldigen Rudi Völler kam. Die holländischen Provokationen gingen nicht auf - angetrieben von einem energiegeladenen Jürgen Klinsmann gewann die DFB-Auswahl mit 2:1. Mühsam war das 1:0 im Viertelfinale gegen die Tschechoslowakei durch einen Matthäus-Elfmeter. Der wütende Tritt des Kaisers gegen eine Wasserkiste gehört zu den beliebten WM-Anekdoten.

Beckenbauer hatte einen riesigen Anteil am Triumph

Im Halbfinale wurde der Mythos der englischen Untauglichkeit für’s Elfmeterschießen begründet - vier sichere deutsche Schützen reichten zum Erfolg. Legendär sind die Tränen von Paul Gascoigne. Nach dem Finale weinte dann der große Diego Maradona - ausgeschaltet vom danach nie wieder unterschätzten Guido Buchwald.

Leicht in Vergessenheit gerät, wie knapp sich Deutschland überhaupt erst für den italienischen Sommertraum qualifiziert hatte. An einem kalten und trüben Novemberabend schoss Thomas Häßler erst kurz vor Schluss in Köln den notwendigen 2:1-Siegtreffer gegen Wales - sonst wäre die ganze Kaiser-Herrlichkeit schon kurz vor dem Mauerfall in üble Fußball-Tristesse umgeschlagen.

Beckenbauer hatte einen riesigen Anteil am Triumph - das versichern alle Zeitzeugen zum 25. Jubiläum. „Wir Spieler haben Franz alles geglaubt. Ausnahmsweise muss ich ihn da mal loben“, sagte Matthäus dem „Kicker“. Eine „Pfadfindertruppe“, sei man gewesen. Im Gegensatz zur stimmungsmäßig verkorksten WM 1986 in Mexiko schaffte Beckenbauer eine perfekte Atmosphäre im Teamquartier Castello di Castiglio in Erba wie auch zuvor in Kaltern im Trainingslager. Dort in Südtirol treffen sich am kommenden Mittwoch mehrere Weltmeister am Jahrestag ihres Triumphs.

In Erinnerungen schwelgen wird manchem Titelhelden von einst gut tun. Es gehört zur sportlichen wie menschlichen Tragik der einstmals goldenen Generation, dass den meisten im Gegensatz zu Völler oder Klinsmann die große Karriere nach der großen Karriere misslang. Viele Laufbahnen endeten im Fußball-Niemandsland. Siegtorschütze Brehme trainierte wie sein Kollege Klaus Augenthaler als letzte Station die SpVgg Unterhaching.