Winfried Kretschmanns politisches Leben begann an der Universität Hohenheim. Damals empfand er sogar noch richtig Spaß an der Politik. Nur der Joint beeindruckte ihn nicht.

Stuttgart - Revolutionäre führen ein wechselhaftes Dasein. Sieg und Niederlage folgen einander wie die Flut der Ebbe. So sollte es Winfried Kretschmann nie gelingen, auf der Kuppel des Hohenheimer Schlosses die rote Fahne zu hissen, obwohl er sich mit seinen Genossen nächtelang das Hirn marterte, wie dies zu bewerkstelligen sei. Auch die Sprengung des Studium generale misslang. Walter Krause war angekündigt, Sozialdemokrat und Innenminister der von 1966 bis 1972 in Baden-Württemberg regierenden großen Koalition. Kretschmann fungierte als AStA-Vorsitzender an der Universität Hohenheim. „Ich bin dann rein mit der Truppe und habe Krause in wüsten Verbalattacken gesagt, er solle jetzt aufhören mit dem Geschwätz.“

 

Allerdings hatten die jungen Leute nicht bedacht, dass schon damals Veranstaltungen des Studium generale gerne von Menschen wahrgenommen wurden, deren Studententage weiter zurückliegen. Vor allem ältere Herren aus der Umgebung saßen im Saal, erinnert sich Kretschmann. Etliche dürften über Fronterfahrung verfügt haben. „Die schrien uns nieder, und wir mussten uns trollen.“ Am nächsten Tag mikroskopierte Kretschmann wieder brav im Labor, da kam sein Professor Otto Pflugfelder – „alte Biologen-Schule“ – und setzte zu einer Standpauke an, wie man sich zu benehmen habe. Er verzichtete auch nicht auf den Hinweis, dass „gerade revolutionäre Studenten besonders gute Leistungen erbringen“ sollten.

Das erste und einzige Mal gekifft

Mehr als vierzig Jahre ist das jetzt her. Winfried Kretschmann sitzt im prunkenden Balkonsaal des Schlosses. „Hier begann mein politisches Leben“, sagt er. Dessen Ursprüngen nachzuspüren, dazu ist er noch einmal nach Hohenheim gekommen. Unten im Schlosshof steht seine Dienstlimousine, im Treppenhaus wachen die Personenschützer. Nebenan residiert Rektor Stephan Dabbert. Zu Kretschmanns Zeiten führte die Universität ein Präsident. Der hieß George Turner, ein „liberaler und gewitzter Mann“. Als Kretschmann und Genossen respektive Genossinnen wieder einmal der Tatendurst überkam und sie sich anschickten, den Universitätssenat zu sprengen, rettete Turner die Situation, indem er die rebellischen Studenten kurzerhand zu „Sachverständigen“ erklärte, worauf sie der Sitzung ordnungsgemäß beiwohnen konnten.

Kretschmann machte 1968 sein Abitur, es folgten Grundwehrdienst und Studium. 1975 legte er das wissenschaftliche Staatsexamen ab. Was aber um alles in der Welt suchte der junge Kretschmann in jener bewegten Zeit im beschaulichen Hohenheim? „Ich habe ja nicht als Revolutionär angefangen“, versetzt Kretschmann, „sondern als Student in einer katholischen Verbindung.“ Die hieß Carolingia, es gibt sie noch heute. Drei Semester gehörte er ihr an. Dass schon damals der Katholizismus den Anfechtungen der Welt nicht mehr standhielt, zeigt sich daran, dass Kretschmann dort „bei psychedelischer Beleuchtung das erste und einzige Mal in meinem Leben kiffte“. Das habe aber keinerlei Wirkung gezeigt, „und dann habe ich es gelassen“.

Biologie oder Germanistik

Lange hatte er mit sich gerungen, ob er Biologie oder Germanistik studieren wollte. Er entschied sich für Biologie und nahm noch Chemie dazu, weil er fürs Lehramt ein zweites Fach benötigte. Aber weshalb es ihn dann nach Hohenheim verschlug, weiß er nicht mehr so genau. In Plieningen fand Kretschmann ein Zimmer. Wenn er von dort zur Uni hinaufeilte, war im dörflichen Ambiente doch immer ein bisschen Oberschwaben gegenwärtig. „Als ich in der Kommunistischen Hochschulgruppe war, kam jemand aus Berlin und sagte: ‚Bei uns in Berlin ist ja der RCDS revolutionärer als ihr hier.‘“ Der RCDS ist der Studierendenverband der CDU.

Aber was trieb ihn damals an? „Das Antiautoritäre“, antwortet Kretschmann. „Das Ausbrechen aus dieser verkrusteten gesellschaftlichen Struktur, die ich in einem vorkonziliaren katholischen Internat exzessiv erlebt hatte.“ Kretschmann hatte in Riedlingen das Internat besucht. „Dieses Infragestellen von allem, was als üblich, hergebracht, normal und selbstverständlich galt, das war der eigentliche Kick.“ Als „sozialisierter Christ“ – in seinen Studentenjahren trat er vorübergehend aus der Kirche aus – hatte er auch etwas für internationale Solidarität übrig. „Das Gerechtigkeitsdenken brachte ich mit“, sagt er, „das Arm-Reich-Thema durchzieht das Neue Testament in vielen Metaphern.“ Allerdings lag ihm schon damals trotz marxistischer Rhetorik ein sozialpolitischer Verteilungsdiskurs eher fern. Zwar war Kretschmann der erste Akademiker unter den Seinen, allesamt Handwerker und Arbeiter. Auch sein Vater, Dorfschullehrer und CDU-Mitglied, habe kein Abitur gehabt. „Er war ein extrem bescheidener Mensch, der immer sagte, wer viel verdiene, habe auch viele Ausgaben. Linkes, Sozialdemokratisches, gar Klassenkämpferisches habe ich aber überhaupt nicht von zu Hause mitgebracht.“

Freiheit für Dhofar und Oman

Kretschmann weist in vielen seiner Reden mit ernster Miene darauf hin, dass Politik Sinn machen müsse, nicht Spaß. Da erleichtert es doch ein bisschen, dass ihm wenigstens an der Uni die Politik Spaß machte. Das führt zu einem der Siege, die er dann auch errang. Es ging um die Frage, an wen der Erlös des AStA-Festes gespendet werden sollte. Der RCDS optierte für das Rote Kreuz, die revisionistischen Studenten wollten das Chile-Komitee bedenken, die Revolutionären um Kretschmann plädierten jedoch für die PFLOAG, eine Befreiungsbewegung für Oman und Dhofar. Das klingt ein wenig nach den diversen Befreiungsbewegungen in dem Monty-Python-Film „Das Leben des Brian“ – und so war es wohl auch. Kretschmann sagt: „Es ging einfach darum, dass man auch winzige Befreiungsbewegungen bedient, die niemand kennt, nicht einmal wir selbst.“ Es gab eine große Debatte, „der Hörsaal war genagelt voll“, Kretschmann obsiegte mit zwei Stimmen. „Wir wollten zeigen, wer hier die richtigen Revolutionäre waren. Der Spaßfaktor war enorm. Es hatte etwas Unbeschwertes, das war eine der schönsten Zeiten meines Lebens. Später, als es in irgendwelche linksradikalen Sekten ging, seilte ich mich ab. Alles, was nach Gewalt roch, war mir unangenehm. Ich habe mich schon als Kind nie geprügelt.“

Kretschmanns Hohenheimer Zeit war eine Schule der Politik: hinstehen, reden, sich durchsetzen – argumentativ, taktisch, strategisch. „Man lernt aus Niederlagen“, sagt er, „auch wenn man am Ende wie ein begossener Pudel dasteht.“ Es galt, gegen die Konvention anzutreten, Zeit und Fleiß aufzubringen. Kretschmann dockte bei der Hochschulgruppe des maoistisch orientierten Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) an – was er später als „linksradikale Verirrung“ bezeichnete.

Das Band zur Kanzlerin

Bei allen politischen Eskapaden behielt Kretschmann sein Studium fest im Blick. Und das barg neben den obligatorischen Prüfungen noch ganz andere Herausforderungen. Frage an Kretschmann: „Wie lässt sich eigentlich der Gottesglaube und die Liebe als göttlichem Prinzip mit all dem Fressen und Gefressenwerden vereinbaren, das die Natur bereithält? „Als Biologe ist man immer ein zweifelnder Glaubender“, antwortet Kretschmann. Das gelte auch für ihn, der gerne als fromm beschrieben werde. „Ich habe immer Mühe damit durchzudringen, dass das nicht stimmt; ich bin kein tiefgläubiger Katholik, ich bin ein zweifelnder Katholik.“ Am meisten im Studium habe ihn die Evolutionsbiologie interessiert, ja fasziniert. Wenn man aber die Evolutionsbiologie ernst nehme, „dann spricht wirklich nichts für ein göttliches Wesen“. Er verweist auf den französischen Nobelpreisträger Jacques Monod und dessen berühmten Essay „Zufall und Notwendigkeit“. Die Evolution des Menschen und überhaupt des Organischen, sagt Kretschmann, sei wahrscheinlich ein großer Zufall. Mutationen sind kontingent, „das ist das Spielmaterial“. Notwendig hingegen ist, was sich nach den Naturgesetzen dann daraus entwickelt. Kretschmann redet von dem „Zweifel, der unüberwindbar ist“, weil man „Evolutionstheorie eigentlich nur machen kann, wenn man ausschließt, dass es ein höheres Wesen gibt“. Die Kirche habe es versäumt, „den Glauben im Zentrum weiterzuentwickeln“. Wenn man immer nur am Kinderglauben festhalte, verliere man ihn irgendwann als Erwachsener.

Für sein politisches Handeln lernte Kretschmann aus dem naturwissenschaftlichen Studium, die Fakten erst zu klären, um sie dann zu interpretieren. Das führe immer zu einer sehr nüchternen Haltung. „Ich sehe das zum Beispiel an der Kanzlerin.“ Naturwissenschaftler verbinde ein unsichtbares Band: die Abneigung gegen Ideologie. „Das heißt nicht, dass alle Naturwissenschaftler Heilige sind, auch wir taktieren, aber nur bis zu einem gewissen Grad.“ Als der Politiker, der er geworden ist, könne er sagen: „Dass ich Naturwissenschaften und nicht Germanistik studierte, das bereue ich keine Minute.“