Wenn jede Stunde eine Geschichte erzählt, hat der Tag 24 Geschichten. Eben diese erzählen wir in einer Serie. Von 6 bis 7 Uhr beobachten wir mit Block, Stift und Videokamera, wie auf dem Wochenmarkt in Degerloch ein Gemüsestand aufgebaut wird.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Degerloch - Der Wecker hat um 5 Uhr geklingelt. Wie jeden Samstag. Während dann für die meisten das Wochenende beginnt, hat es sich für Esther Bayha ausgeträumt. Denn Samstag ist Markttag, das bedeutet, dass sie spätestens um 6 Uhr unter dem Turm der Degerlocher Michaelskirche stehen sollte. Und da steht sie, die Kirchturmuhr hat gerade sechsmal geschlagen.

 

Mit dem sechsfachen Gong vom Turm wird die Nacht zum Tage. Für Esther Bayha und ihre Helfer ist er das Signal fürs Loslegen. Dann bleibt ihnen noch eine Stunde, um Kopf- neben Eissalate zu platzieren, um Schnittlauchsträuße zu arrangieren und um Kartoffeln und Karotten in der Auslage zu ordnen. Denn die ersten Kunden stehen bereits um kurz vor 7 Uhr da und wollen Frisches einkaufen fürs noch jungfräuliche Wochenende.

60 Minuten im Zeitraffer

Doch bis es so weit sein kann, steht noch einiges an. Bisher ist der Marktstand nur ein zusammengeklappter Hänger. Aber bis um 7 Uhr verstreichen glücklicherweise noch 60 Minuten, 60 Minuten, in denen für den Beobachter der Szenerie der Zeitraffer eingeschaltet ist. Jeder Handgriff ist durchdacht – oder zumindest schon tausendmal getan. Seit 20 Jahren verkaufen die Bayhas ihre Waren samstags auf dem Degerlocher Wochenmarkt. Da gehört die Routine dazu wie das frühe Aufstehen.

Vielleicht hat das Affentempo aber auch etwas mit dem Wetter zu tun. Dieses Wochenende beginnt grauselig. Petrus kümmert sich nicht darum, ob Markt ist oder nicht. Schon den ganzen frühen Morgen schüttet es aus Kübeln, Regentropfen besprenkeln Esther Bayhas Brille. Aber sie kümmert sich ihrerseits nicht um Petrus. Markt ist Markt. Da hat sie einiges erlebt in den vergangenen Jahrzehnten. Deshalb weiß sie: Regen ist unwirtlich, aber nicht das Schlimmste. „Vor Wind habe ich Respekt“, sagt sie. Der kann ihrem Stand gefährlich werden. Unter dem Strich gilt jedoch: Es muss getan werden, was zu tun ist, egal an was für einem Tag, sagt Esther Bayha. Sogar an ihrem Geburtstag – und der ist just an diesem Tag.

Das Gefluche gehört dazu

Während mindestens halb Degerloch noch in den Federn liegt und träumt, wird rund ums Bezirksrathaus eingeräumt, rangiert, geklappert und geschraubt, Rollwagen scheppern über den Boden. „Es ist immer eine logistische Herausforderung, bis alle ihr Plätzle haben“, sagt Esther Bayha. Es wird geschimpft und geflucht, irgendeiner ist immer im Weg. Das ist fast schon ein Gesetz. Ein anderes geht so: Gegen 7 Uhr wird sich das Chaos lichten, dann wird der Fischmann dort sein, wo er hingehört, der Blumenverkäufer steht unter seinem Sonnenschirm, der ihn an jenem Morgen eher vom Regen abschirmt, und Esther Bayhas Gemüsestand wird sich um die Straßenlaterne schmiegen. „Das ist maßgeschneidert“, sagt die seit diesem Tag 58-Jährige zu der Aussparung in ihrem rollenden Marktstand. Die Laterne ist übrigens ein durchaus nützliches Möbelstück, um Tüten an Fischerhaken daran aufzuhängen.

Zu viert klappen sie den Stand auf, es wird geruckelt, gezuckelt, dann passt alles. Die Basilikumtöpfchen stehen als Erstes auf der Verkaufsrampe. Noch duften sie vor sich hin, ohne dass jemand Pesto oder Caprese aus ihnen machen will.

Die Bayhas verkaufen ihre Ware nicht nur auf dem Degerlocher Markt, sondern auch in Echterdingen und im Degerlocher Gewerbegebiet Tränke. Ihre Auslage ist teils, aber nicht komplett aus eigenem Anbau. Von ihren Feldern stammen zum Beispiel die Petersilie, Kohlrabi, die Salate, Rote Bete, die Buschbohnen oder Zucchini. Vieles andere kauft der Gemüsebauer zu.

Die Turmuhr schlägt siebenmal

Die Rollwagen mit dem Gemüse und Obst für Degerloch werden am Vorabend des Markttags gerichtet, sie verbringen die Nacht im Kühlhaus in Echterdingen. Frühmorgens, wenn Esther Bayha aufgestanden ist, muss sie die Wagen nur noch in den Transporter schieben, sie macht das mit dem Rücken, so geht es leichter. „Außerdem: Wenn man das oft genug macht, dann kriegt man auch Kraft, das merke ich immer beim Blusenkaufen“, sagt Esther Bayha, während sie am Salat herumzupft.

Als die Turmuhr der Michaelskirche siebenmal schlägt, liegt fast alles, wo es soll. Salate, Zucchini, Petersilie und Gurken bilden die grüne Ecke, passend zu Esther Bayhas T-Shirt. Die Preisschilder sind verteilt, der erste Kunde mit Schirmmütze ist mit einem Kilo Kartoffeln bedient. „Jetzt gucken wir nach einem Frühstück“, sagt Esther Bayha. Und vielleicht nach einem Geburtstagskuchen, denn nun beginnt der gemütlichere Teil des Morgens. Bis zum Abbau, und der fängt an, wenn die Kirchturmuhr halb eins schlägt.

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