Wie lebt es sich mit dem Auto als Mitbewohner? Ein Besuch im ersten Carloft Süddeutschlands in Karlsruhe bietet befremdliche Einblicke

Region: Verena Mayer (ena)

Karslruhe - Die Geschichte, die Frank Nöthen* erzählt, ist wie die Wohnung, in der er den Gast begrüßt: sehr beeindruckend und sehr luftig. Die Wohnung ist genau genommen ein Penthouse. Es befindet sich im vierten Stock eines Gebäudes, das in einem Karlsruher Neubauviertel namens Upper East steht. Der Blick vom großen Balkon neben dem Schlafzimmer kann ungestreift auf die riesige Terrasse beim Wohn- und Esszimmer schweifen. Dazwischen liegt ein majestätisches Bad mit viel Glas und eine imperiale Küche mit viel Chrom. In einer eleganten Vase stehen getrocknete Hortensien, ein eingebauter Weinschrank temperiert feine Tröpfchen. Der exklusivste Part dieses 130 Quadratmeter einnehmenden Penthouses ist jedoch der Aufzug für das Auto und dessen Parkplatz vor dem Küchenfenster. Ganz genau genommen ist das Penthouse deshalb ein Carloft.

 

Die Geschichte, die Frank Nöthen dem Besucher erzählt, geht so: Das Carloft haben seine Eltern für eine halbe Million Euro gekauft. Wenn sie älter und nicht mehr so gut zu Fuß sind, wollen sie hier einziehen und barrierefrei wohnen. Bis diese Zeit gekommen ist, darf er, der allein lebende 26 Jahre alte Informatikstudent, die exquisite Unterkunft bewohnen. Frank Nöthen sagt, dass die Wohnung ideal sei: Die Lage – so super zentral, die Räume – so super groß, die Aussicht – so super schön. Und der Autolift, ja der Autolift, der ist natürlich so super praktisch.

Die Geschichte ist erstunken und erlogen

Frank Nöthen sagt, er habe es zu schätzen gelernt, seine Einkäufe (speziell vor Parties) direkt bis vor den Eingang fahren zu können. Es sei auch wirklich bequem, das Auto direkt vor der Tür putzen zu können. Und natürlich habe es etwas, den Wagen nach dem Aufstehen und vor dem Schlafen gehen zu sehen, auch wenn es nur seine gewöhnliche A-Klasse ist. (Weil der Wagen just an diesem Tag in der Werkstatt ist, steht auf dem Parkplatz und dem Foto für die Zeitung das Auto des Gastes).

Es wird sich herausstellen: nichts an dieser Geschichte ist wahr. Frank Nöthen ist 22, hat Krankenpfleger gelernt und macht gerade sein Abitur nach. Mit seiner Frau wohnt er in einer ganz normalen Mietwohnung in einer ganz anderen Ecke von Karlsruhe und fährt einen offenbar nicht sehr repräsentativen VW-Passat. Die Geschichte, die er der Redakteurin im Carloft erzählt hat, hat sich die Firma ausgedacht, die die Wohnungen im Upper East gebaut hat und ein werbewirksames Show-Loft bereit hält. Die Firma heißt Familienheim Karlsruhe.

Doch obwohl Frank Nöthens Geschichte erstunken und erlogen ist, verrät sie vielleicht mehr über Carlofts, als man bei einem echten Bewohner erfahren hätte.

Die Erfinder des Carlofts sitzen in Berlin

Erfunden haben das Carloft Manfred Dick und Johannes Kauka. Der Architekt und der Kaufmann aus Berlin wollen ein Bauprojekt retten, in dessen Tiefgarage sich Grundwasser breit zu machen droht. Auf einer Kneipentour entwickeln die beiden die Idee von der individuellen Hochgarage. Das erste Carloft der Welt entsteht Ende der 2000er Jahre in Kreuzberg. Im Kiez wachsen elf Luxus-Wohnungen inklusive Autoaufzug. Doch die schicken Berichte über den vermeintlich letzten Schrei werden begleitet von viel Geschrei. Farbbeutel fliegen auf die Fassade, Panoramascheiben enden als Scherbenhaufen. Im Jahr 2009 zählt die Polizei 20 Anschläge auf das Gebäude in der Reichenberger Straße. Die Kreuzberger Einheimischen fühlen sich von den „Bonzenschweinen“ im Carloft provoziert. Ein Sicherheitsdienst muss für Ruhe sorgen. Interessenten werden zu Desinteressenten, Käufer treten von Verträgen zurück.

Manfred Dick und Johannes Kauka, die die Carloft GmbH gegründet haben, lassen sich die Laune nicht vermiesen. Die Erfinder haben sich ihr Patent in mehr als 30 Ländern schützen lassen. Sie freuen sich an vielen Nachfragen aus Moskau und London, Kapstadt und St. Petersburg, Israel und Abu Dhabi.

Für Publicity erfindet die Firma eine Geschichte

Und Karlsruhe. Die Baugenossenschaft Familienheim errichtet in einem riesigen Neubaugebiet in der Südstadt 145 Eigentumswohnungen. 24 davon als lizenzierte Carlofts – die ersten in Süddeutschland, wie das Unternehmen stets betont. „Wenn es keine Vorreiter gibt, wird es auch keine Innovationen geben“, preist ein Vertreter der Familienheim seine vorreitende Firma beim Spatenstich im Frühjahr 2011.

In den Karlsruher Carlofts dreht kein Sicherheitsdienst seine Runden. Es gibt keine Videokameras, die die drinnen vor denen draußen schützen müssen. Die Karlsruher Südstadt sei ja nicht mit dem Berliner Kiez zu vergleichen, sagt der Vertriebsleiter Rüdiger Esslinger. Und trotzdem hat er für den Termin mit der Stuttgarter Zeitung die Super-toll-und-super-praktisch-Geschichte für Frank Nöthen erfunden.

Warum nur? Wie kommt ein fast 70 Jahre alter Betrieb auf die Idee, für eine Presseanfrage einen solchen Schwindel zu inszenieren?

Es gibt nur wenig reale Carloft-Bewohner

Die Erklärung lässt Rüdiger Esslinger seinen Auszubildenden Mario Pickel* geben, der den Kontakt zu Frank Nöthen hergestellt hat. Die jungen Männer sind befreundet. Mario Pickel muss also beichten, dass sich die realen Bewohner des Carlofts entweder nicht in der Öffentlichkeit präsentieren wollen oder es nicht dürfen. Den beiden Spielern des KSC etwa habe es der Verein untersagt, dem hohen Tier einer Bank die Compliance-Abteilung.

Die Glaubwürdigkeit ist anzuzweifeln

Das wahre Problem jedoch dürfte sein, dass es gar nicht viele Carloft-Bewohner gibt. Von ihren 24 Wohnungen hat die Familienheim erst neun Stück verkaufen können. „Wir haben definitiv einen reißenderen Absatz erwartet“, gesteht der Vertriebsleiter Rüdiger Esslinger nun wiederum persönlich. Und er versichert zugleich: Am Autoaufzug liege die Zurückhaltung der Kunden nicht. Der komme sehr gut an. Auch die Kosten seien es nicht, die die Interessenten abschreckten. Mit einem Quadratmeterpreis von rund 3500 Euro sei eine Wohnung mit Etagengarage nur unwesentlich teurer als eine Wohnung ohne. Und die monatlichen Liftnebenkosten von 70 Euro seien vergleichbar mit den Kosten für einen Stellplatz in der Tiefgarage. Also nicht der Rede wert.

Der Grund also, warum das Kalkül mit den Karlsruher Carlofts bis jetzt nicht aufging sei der offene Zuschnitt der Apartments. „Die Käufer hätten gerne ein bis zwei Zimmer mehr“, behauptet Rüdiger Esslinger.

Was aber kann man jemandem glauben, der einen Schüler in einem unbewohnten Loft Lügen auffahren lässt?

Forscher halten Carlofts nicht für massentauglich

Glaubt man Gelehrten, wird das Auto eher selten zum Mitbewohner werden. Der Trendforscher Peter Wippermann sagte in der „Auto Bild“: „Autos wie Objekte der Bildhauerei oder des Kunsthandwerks zu zeigen und zu zelebrieren ist wunderbar, wenn Sie viel Geld haben. Massentauglich wird so etwas nicht.“ Und der wissenschaftliche Leiter der Stiftung für Zukunftsfragen, Ulrich Reinhardt, mutmaßte ebendort: „Solche Angebote bleiben in absehbarer Zeit nur für wenige interessant und finanzierbar.“ Folgt man dem Erfinder Manfred Dick, werden Carlofts „in zehn Jahren in großen Städten fast so normal sein wie ein Personenlift.“ Die Prophezeiung des Architekten ist mehr als ein halbes Jahrzehnt alt. Seither wurden nach den Angaben seines Partners Johannes Kauka Carlofts in New York und in Singapur errichtet. In Miami entsteht zurzeit der Porsche Design Tower mit Autoaufzügen. In Düsseldorf soll nächstes Frühjahr eine weitere Luxusimmobilie mit Zufahrt zum Wohnzimmer fertig werden. Und in Berlin hat sich die Lage beruhigt. Alle Apartments seien verkauft – und die Leute begeistert.

Fast so normal wie ein Personenlift also? Naja, vielleicht wird es das noch, wenn die ersten Carloft-Hotels stehen. Zum Probewohnen sozusagen. Pläne gibt es laut Johannes Kauka für Düsseldorf, Berlin, Frankfurt und für Stuttgart. Die Mehrheit des Gemeinderats will an der ausgeguckten Stelle im Neckarpark allerdings lieber ein Sportbad sehen statt eines Hotels.

Die Familienheim kennt keine Reue

Das Karlsruher Schwindelgebilde ist übrigens durch einen Anruf beim vermeintlichen Käufer eingestürzt. Der Mann, der nicht Frank Nöthens Vater ist, hatte keine Ahnung davon, dass er sich das Apartment im Neubauviertel Upper East als Alterssitz gekauft haben sollte. Er wusste nicht einmal, was ein Carloft ist. Frank Nöthen entschuldigte sich daraufhin bei den Belogenen: „Das tut mir alles so furchtbar Leid!“ Sein Kumpel Mario Pickel bat um Nachsicht für diese „dumme Freitagsidee“. Sogar Pickels Vater meldete sich und versicherte, er habe seinem offenbar reumütigen Sohn ins Gewissen geredet: „So einen Käse macht man doch nicht.“

Von Rüdiger Esslinger, dem Chefvermarkter des Karlsruher Lügenlofts, ist hingegen nichts dergleichen zu hören. In seiner letzten Nachricht weist er darauf hin, dass die Wohnung gegen Gebühr für Events genutzt werden könne.

*Name geändert