Am Kräherwald ist der Bau eines Wohnheims für psychisch Kranke geplant. Die Nachbarn fürchten Gewalttaten und um den Wert ihrer Eigenheime.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Kräherwald - Jürgen Armbruster klingt, als wollte er sich für die gute Tat entschuldigen. Er sagt, dass alle Ängste ernst genommen werden müssten und dass es zu seinen Aufgaben gehöre, diese Ängste zu zerstreuen. Er versucht das so: „Wir haben jahrzehntelange Erfahrung, von Menschen mit psychischer Erkrankung geht keine Gefahr aus“. Armbruster spricht diese Sätze nicht nur einmal. Er ist Geschäftsführer des Rudolf-Sophien-Stifts. Die gute Tat ist, dass die Evangelische Gesellschaft und das Stift am Kräherwald ein Wohnheim für psychisch Kranke bauen wollen, inmitten der Stadt. Politisch ist das erwünscht, von ganz oben in den Vereinten Nationen bis hinunter zum Gemeinderat. Wer behindert ist oder krank, gleich in welcher Weise, soll nicht an den Rand der Gesellschaft geschoben werden, sondern in ihr leben.

 

Aber nicht neben Schulen und Kindergärten. Das meinen jedenfalls diejenigen, die in der Nachbarschaft leben. Armbruster erklärt den Plan dem Bezirksbeirat Nord im kleinen Sitzungssaal des Rathauses. Dessen Zuhörerränge waren selbst dann nie voller, wenn Gemeinderatsausschüsse armlange Tagesordnungen abarbeiteten.

Der Andrang auf die Zuhörerplätze ist gewollt

Der Andrang ist gewollt. Andrea Krueger, die Bezirksvorsteherin, hat alle Anlieger zur Sitzung eingeladen, obwohl der Bezirksbeirat heute nicht einmal über die Baupläne entscheiden kann. Es gibt noch gar keine, jedenfalls keine detaillierten, erklärt Armbruster. Selbst Krueger ist nicht sicher, ob das Projekt überhaupt politisch entschieden werden muss oder ob zur Genehmigung ein Stempel des Baurechtsamts genügt. Aber die beiden Bauherren hatten Offenheit von Anfang an erbeten. Sie wollen sich später keinesfalls Geheimniskrämerei vorwerfen lassen.

Eine Frau in der ersten Reihe hat Zeitungsmeldungen mitgebracht: Ein psychisch Kranker hat einen Mitbewohner getötet, ein anderer mit einem Messer Polizisten angegriffen. Es sind aktuelle Meldungen aus der Region. Der Bezirksbeirat gewährt den Zuhörern Rederecht. Ein Anwalt erklärt, er verteidige psychisch Kranke vor Gericht. Seine Erfahrung habe ihn gelehrt, dass Gewaltausbrüche bei ihnen nie ausgeschlossen seien. Eine Frau fürchtet um den Wert ihres Eigenheims.

Geistige Leiden sind der Hauptgrund für Frührente

Die Zahl der psychisch Kranken steigt stetig. Wegen geistiger Leiden gingen im Jahr 2010 fast 71 000 Deutsche sogar in Frührente, im Schnitt in einem Alter von 48,3 Jahren. 2002 waren es noch 50 000. Längst haben die Krankheiten des Geistes die am Skelett oder Herzen als Hauptursache für Frühverrentung abgelöst. Selbstverständlich sind jene Frührentner in medizinischer Behandlung. Ihre häufigsten Leiden sind Angstattacken oder Depressionen. Dabei wird niemand an gewalttätige Wahnsinnige denken. Armbruster formuliert das so: „Es gibt die unterschiedlichsten psychischen Erkrankungen.“ Alle, die sich sorgen, mögen sich darauf verlassen: Die 24 Bewohner des Heims werden so ausgewählt werden, dass keine Gefahr besteht. Die meisten werden körperlich zu keiner Gewalttat fähig sein. Es sind Patienten, die wegen Pflegebedürftigkeit aus einem anderen Heim verlegt werden müssen.

Aber wer gibt eine Garantie? Es gibt keine, weder am Kräherwald noch andernorts. So sagt das niemand, aber: In Stuttgart sind rund 3500 psychisch Kranke aktenkundig, die in eigenen Wohnungen leben und regelmäßig betreut werden. Hinzu kommen acht Wohnheime, die bereits betrieben werden. Drei weitere sollen gebaut werden, neben dem im Norden eins in Bad Cannstatt und eins an der Schwarenbergstraße. Sofern von psychisch Kranken eine Gefahr ausgeht, ist sie bei Bewohnern der Heime am geringsten. Sie werden rund um die Uhr betreut, „und wir sehen jeden von ihnen mehrmals täglich“, sagt Armbruster. Das Bürgerhospital steht „in unmittelbarer Nähe zur Pragschule“, sagt Krueger. Zu dem Wohnheim samt Klinik, die das Rudolf-Sophien-Stift an der Leonberger Straße betreibt, gehört ein Betriebskindergarten mit 40 Plätzen. Es gab nie einen Übergriff.

Die allermeisten dieser Fakten werden während der Sitzung aufgezählt. Die Ängste bleiben. Armbruster unternimmt einen ungewöhnlichen Versuch, sie zerstreuen. Er lädt jeden ein, sich in einem anderen Heim selbst ein Bild zu machen.