Die Verwaltung stößt nach Ansicht führender Experten mit ihrer aktuellen Baupolitik an Grenzen. Aufgrund der Zuwanderung von Flüchtlingen müssten Grundsätze auf den Prüfstand.

Stuttgart - Eigentlich wird die Politik des Stuttgarter Rathauses beim Wohnungs- und Städtebau von den Experten, die als sachkundige Bürger im Städtebauausschuss sitzen, unterstützt. Doch das ist nicht mehr der Fall. Die Wissenschaftler und Architekten fordern ein Umsteuern und denken sogar laut über neue Baugebiete auf der grünen Wiese nach. Als Grund nennen sie unter anderem den Zuzug von Flüchtlingen. „Der Rahmen hat sich radikal verändert“, sagt Detlef Kurth, Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung sowie Professor an der Hochschule für Technik, bei der jüngsten Sitzung des Städtebauausschusses.

 

„Es herrscht derzeit eine unheilige Allianz von Bauwirtschaft und Ökologie“, analysiert der Architekturprofessor und ehemalige Basler Kantonbaumeister Carl Fingerhuth. „Die Ökologen schützen die Grünflächen“, sagt er, „und die Bauherren verdienen an den wenigen verfügbaren Grundstücken entsprechend mehr, da diese extrem dicht bebaut werden müssen.“

Der Sozialwissenschaftler und ehemalige Dekan der Architekturfakultät der Universität Stuttgart, Tilman Harlander, beschreibt die Situation als „sehr brisant“. „Durchschnittliche Mietwohnungen werden im Internet derzeit für 18 Euro pro Quadratmeter angeboten“, sagt er. Günstige Wohnungen kommen hingegen kaum auf den Markt. Im Jahr 2014 sei etwa keine einzige neue Sozialwohnung in Stuttgart gebaut worden, so Harlander. Auch 2015 sei der OB von seinen eigenen Zielen in Sachen bezahlbarer Wohnraum weit entfernt.

Mehr Geld der Stadt für Wohnungsbau

Aus Harlanders Sicht bleiben der Stadtverwaltung nur wenige Möglichkeiten, um auf das Problem angemessen zu reagieren: „Die Stadt müsste die eigenen Fördermittel für den Bau bezahlbarer Wohnungen deutlich aufstocken“, sagt Harlander. Andere Städte wie München oder Frankfurt machten es vor. Zudem hat er Zweifel, ob es in Stuttgart ausreichend Bauland gibt, um dem drohenden Ansturm auf den Wohnungsmarkt zu begegnen. „Ich glaube, das ist nicht der Fall.“

Detlef Kurth erklärt: „Wir unterstützen es eigentlich, dass die Stadt auf Innenentwicklung statt auf Baugebiete auf der grünen Wiese setzt.“ Doch die Situation habe sich verändert. Kurth nennt den Zuzug der Flüchtlinge seit dem vergangenen September als Grund für seine Aussage. „Ich muss meine Vorlesungen umschreiben, also muss die Stadt wahrscheinlich auch ihre Politik verändern“, sagt er. Schon heute fänden Fachkräfte wie Erzieher oder Kranken- und Altenpfleger keine Wohnung mehr in Stuttgart, die sie sich leisten können. Nun müssten sich die Flüchtlinge in den kommenden Jahren ebenfalls mit Wohnraum versorgen. „Angesichts einer so radikal neuen Lage müsse man über Außenentwicklung – also Wohnungsbau auf der grünen Wiese – nachdenken, so Kurth. Auch wenn man das nicht die reine Lehre der Stadtplanung sei.

Tilman Harlander fügt hinzu: „Es leben derzeit Tausende Flüchtlinge in der Stadt und man kann davon ausgehen, dass sich rund 40 Prozent von ihnen schon im kommenden Jahr eine Wohnung in der Stadt suchen werden.“ Und schon ohne die Flüchtlingsthematik seien in der Stadt Verdrängungseffekte zu beobachten, erklärte Harlander. „Wir beobachten ein Auseinanderdriften der Stadtgesellschaft.“ Menschen mit schwächeren Einkommen würden bereits heute aus Stuttgart verdrängt.

Die Verwaltung verteidigt ihr Vorgehen

Der Baubürgermeister, Peter Pätzold (Grüne), verteidigt die Vorgehensweise der Verwaltung. „Wir wollen nicht auf die grüne Wiese gehen.“ Stuttgart brauche diese Flächen wegen des Stadtklimas und als Naherholungsgebiete, so der Baubürgermeister. Die Zeitstufenliste, in der sämtliche politisch gewollten Baugebiete der kommenden Jahre aufgelistet sind, biete ausreichend Potenzial, sagt der Bürgermeister.

Pätzold warnt aufgrund der aktuell angespannten Situation vor Kurzschlusshandlungen. „Wir dürfen keine Siedlungen bauen, die wir in einigen Jahren bereuen“, so der Baubürgermeister. Stuttgart dürfe lediglich moderat und qualitätvoll wachsen, fügt er hinzu. Als mögliches Negativbeispiel nennt Pätzold das Birkacher Feld. „Ja, dort könnten 2000 bis 3000 neue Wohnungen entstehen“, sagt er. Doch er fügt rasch hinzu: „Bis dort jemand einziehen könnte, dauert es mindestens fünf Jahre und es gibt sicher Bürgerproteste.“ Daher wolle man am Vorrang der Innenentwicklung festhalten, erklärt der Baubürgermeister.

Trotz der brisanten Lage warnen die Experten davor, Baustandards abzusenken oder die Quoten für sozial geförderten Wohnungen in einzelnen Quartieren auf mehr als 50 Prozent hinaufzuschrauben. Laut der Aussagen des Baubürgermeisters gibt es in der Verwaltung tatsächlich die Diskussion, die Förderquoten bei neuen Baugebieten auf bis zu 60 Prozent zu erhöhen. Einig ist sich die Verwaltung mit den Mitgliedern des Städtebauausschusses, dass die Landeshauptstadt die Probleme nicht allein lösen kann. Doch nur in Stuttgart sind durch das inzwischen etablierte Innenentwicklungsmodell SIM fixe Anteile günstiger Wohnungen bei neuen Bauprojekten vorgeschrieben, in der Region nicht.