Die Studentenwohnheime in Stuttgart sind überfüllt, und wer in einer WG unterkommen will, muss sich gegen eine riesige Konkurrenz durchsetzen. Der 23-jährige Adrian Schätz aus Hannover, der hier seinen Master machen will, gibt nicht auf.

Stuttgart - Stuttgart - Wenn er es sich recht überlegt, hätte er an diesem Tag auch zu Hause bleiben können. Er hätte genauso gut seinen Laptop anschalten, sich aufs Sofa setzen und darauf warten können, dass ein Wunder geschieht. Am Ergebnis seiner Wohnungssuche hätte das nichts geändert. Doch Adrian Schätz ist nicht zu Hause geblieben.

 

Drei Namen, mit Kugelschreiber auf ein Klingelschild gekritzelt, der unterste schon wieder durchgestrichen: „Da steht dann bald mein Name“, sagt Adrian grinsend, als er auf die Klingel drückt. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag steht der schlaksige Student mit dem akkurat inakkuraten Vollbart vor einer Tür, die vielleicht bald seine eigene sein könnte. Diesmal gehört sie zu einer Vierer-WG im Stuttgarter Westen, ist weiß und in der Mitte aus Milchglas, durch das Adrian verschwommen in einen dunklen Flur sehen kann. Dahinter schimmern die Umrisse eines roten Fahrrads, das bei genauerem Hinschauen auch ein Kinderwagen sein könnte. Von außen ist das schwer zu erkennen.

„Das kann ich erst genau sagen, wenn ich drin bin“, sagt Adrian und macht einen Schritt zurück. Drin sein, das ist sein Ziel: drin sein und drin bleiben. Bisher allerdings stand er meistens nach gut zwanzig Minuten wieder draußen vor der Tür, wartete ein paar Tage und hatte dann eine knapp formulierte Absage in seinem Mail-Eingang, manchmal auch gar nichts. „Wenn lange Zeit Funkstille herrscht, muss man damit rechnen, dass es mit dem Zimmer nicht geklappt hat“, sagt er. Dennoch probiert er es heute wieder. Adrian zuckt die Schultern und übt sich in Zweckoptimismus: „Wird schon.“

Eine andere Stadt, ein anderer Studiengang

Doch so zuversichtlich, wie er sich anhört, ist er nicht. Vor ein paar Monaten hat Adrian in Hannover seinen Bachelor in Mediendesign gemacht. Damals lebte er in einer Einzimmerwohnung außerhalb des Stadtzentrums, die ihm ein Freund seines Vaters günstig vermietet hatte. Bis zur Hochschule dauerte es mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eine knappe halbe Stunde.

In der Nachbarschaft lebten überwiegend Familien mit kleinen Kindern und großen Hunden. Und die Straßenbahnen stellten nachts um halb eins ihren Dienst ein, so dass er entweder zu Fuß nach Hause gehen oder bei einem Kommilitonen übernachten musste, wenn es einmal später wurde. Heute jedoch kommt ihm das, was ihm in Hannover missfallen hat, erstaunlich erstrebenswert vor. Auf seinen Bachelor will der Mediendesigner jetzt noch einen Master draufsetzen. Deshalb eine andere Stadt, ein anderer Studiengang.

Draußen vor der Tür

Doch vor der neuen Herausforderung steht die Suche nach einer Bleibe – im Stuttgarter Stadtdschungel ein schier aussichtsloses Unterfangen. Seit einem knappen Monat zieht der Student bereits von WG-Casting zu WG-Casting. Vor wenigen Stunden erst saß er zwei Doktoranden Mitte dreißig gegenüber, die ihm höflich, aber bestimmt zu verstehen gaben, dass er mit seinen 23 Jahren und seinem Hipsterbart „nicht so richtig zu ihnen passe“. Das Ganze dauerte nur wenige Minuten, dann stand Adrian wieder draußen vor der Tür.

Eine Reihe an kurzen Gesprächen

Eine ganze Reihe solcher Kurzgespräche hat er in den vergangenen Wochen hinter sich gebracht. Meistens bleibt ihm dabei nicht mehr als eine Viertelstunde, um sich vorzustellen. Dann steht schon der nächste Bewerber vor der Tür – für diejenigen, die eines der begehrten Zimmer zu vermieten haben, bedeutet das Kennenlernen im Akkord. Ohne Organisation wird es für sie schnell unübersichtlich. Adrian versteht das. „Es ist gut, überhaupt eingeladen zu werden, die WGs sortieren im Vorfeld richtig aus.“

Ein kleiner Ticker auf seinem Smartphone sagt ihm, wann auf dem Internetportal für Wohnungssuchende, wo er angemeldet ist, neue Angebote eintreffen. Dann heißt es schnell sein: Innerhalb der ersten Stunde würden die meisten Bewerbungen verschickt. Oft entscheide sich da schon, wer eingeladen werde, sagt Adrian und reagiert sofort. Mit dem „Drinbleiben“ hat es bisher trotzdem nicht geklappt.

Mit diesem Problem ist er in Stuttgart nicht allein. WGs sind knapp, die Studentenwohnheime massiv überfüllt. Rund 5800 neue Studenten bewarben sich zum vergangenen Wintersemester um ein Zimmer, viele von ihnen musste das Studentenwerk Stuttgart auf Wartelisten setzen. Die Wartedauer ist dabei je nach Wunschobjekt unterschiedlich – drei bis zwölf Monate. Die Situation in Stuttgart habe sich für Studenten auf Wohnungssuche in den letzten Jahren deutlich zugespitzt, heißt es beim Studentenwerk.

230 000 Zimmer kommen auf rund 2,7 Millionen Studenten

Auch bundesweit hinkt die Zahl der Wohnheimplätze der Bewerberzahl weit hinterher: 230 000 Zimmer kommen auf rund 2,7 Millionen Studenten. Die meisten von ihnen bemühen sich deshalb nicht einmal mehr darum und ziehen gleich auf eigene Faust los, um eine Wohngemeinschaft in der Stadt zu finden. Wenn Studienanfänger die Wahl haben, entscheiden sie sich in den meisten Fällen für eine WG, besagt eine Studie der Deutschen Gesellschaft für Hochschul- und Wissenschaftsforschung von 2013. Und das heißt: rein in den WG-Wahnsinn.

Holzboden, schmaler Gang

„Die Castings sind manchmal wirklich anstrengend. Man sitzt vor den Mitbewohnern wie vor einer Jury und hofft, dass sie einen gut finden. Die Situation ist schon schräg“, erklärt Adrian, bevor die Tür summt. Dann tritt er ein, wieder einmal.

Im ersten Stock empfangen ihn Holzboden, ein schmaler Gang und eine ebenso schmale blonde Frau, die ihn in eines der abgehenden Zimmer führt. Auf einem Sofa sitzt neben den anderen beiden WG-Bewohnern bereits ein zweiter Anwärter. Adrians Lächeln wirkt gequält, als er sich vorstellt und neben seinen Konkurrenten setzt. Sie schauen sich kurz an, nicken einander zu, ein lockerer Handschlag, ein „Hey“. Dann wenden sie den Blick ab, das Duell beginnt. Ein heimlicher Wettkampf darum, wer hier die Oberhand behält.

Die zähen ersten Minuten

Die ersten Minuten des Gesprächs gestalten sich zäh. Wo er herkommt, wollen die WG-Bewohner wissen. Wie lange er schon in der Stadt sei und ob er hier schon Anschluss gefunden habe. Adrian nickt und versucht, sich das innerliche Augenrollen nicht anmerken zu lassen. Fast alle Castings, die er in den vergangenen Wochen besucht hat, haben auf diese Weise begonnen. Am Anfang waren seine Antworten noch völlig unbedarft, aber inzwischen glaubt er, das unterschwellige Austarieren einschätzen zu können, das hinter der scheinbar banalen Abfrage lauert: Was für ein Typ ist das? Einer, der uns nur am Rockzipfel hängt? Oder kennt der selber coole Leute, mit denen man was machen kann? Inzwischen ist er gewappnet.

Bevor Adrian jedoch antworten kann, mischt sich sein Konkurrent ein. Ob er diese Bar hinterm Hans-im-Glück-Brunnen kenne. Die sei gut, ein Freund von ihm arbeite da neben dem Studium als Barkeeper. Adrian presst die Kiefer aufeinander. „Cool, danke für den Tipp, Mann.“ Punkt für den anderen.

Wie er es denn mit dem Putzen sehe, fragt der bisher einzige Mann, der in der WG wohnt. Auch diese Frage hat Adrian in der letzten Zeit zu oft gehört, als dass sie ihn noch überraschen könnte. „Ich bin schon ordentlich, nicht übermäßig, aber ich halte mich auf jeden Fall an den Putzplan“, spult er die Antwort ab, die ein bisschen klingt, als könne er sie auch mitten in der Nacht fehlerfrei rezitieren. Die beiden Mädchen der WG wechseln hinter seinem Rücken einen kurzen Blick.

Wie bei der mündlichen Prüfung

Von harten Fakten zur Persönlichkeit des Bewerbers

Dann springt das Gespräch in die zweite Phase. Jetzt geht es nicht mehr um die harten Fakten, nun steht die Persönlichkeit des Bewerbers auf dem Prüfstand. Die WG-Bewohner fragen Adrian nach seinem Studium. Er erzählt von seinem Master, davon, dass er gern Elektromusik hört und Snowboard fährt. Doch immer wieder ist es der neben ihm, der die Lacher absahnt. Adrian sieht zu Boden. Die Situation droht zu kippen, dann erzählt er weiter. Von seinem Studium in Hannover und seiner Reise nach Bolivien im vergangenen Jahr. Es ist ein fragiles Gleichgewicht, das in dieser Runde herrscht: Man gibt sich locker, ungezwungen, weltoffen – und trotzdem fühlt man sich ein bisschen wie bei einer mündlichen Prüfung. Beide Seiten wissen es, beide Seiten ignorieren es, so gut es eben geht.

„Bei vielen Bewerbern weiß ich auf den ersten Blick, dass das nichts wird. Aber man kann sie dann ja auch nicht einfach wieder rausschmeißen“, erzählt Laura, die Blonde, als sie in der Küche Teewasser aufsetzt. Auch sie selbst saß schon auf der anderen Seite und musste lächelnd mit ansehen, wie ihre WG-Tauglichkeit auf vorgefertigten Bewerbungsbögen beurteilt wurde.

Absagen nagen am Selbstbewusstsein

Bei ihr hat es damals mit dem „Drinbleiben“ auch eine Weile gedauert. Insgesamt acht Mal trat Laura durch fremde Türen und ließ sich von fremden Augen begutachten. Sie wurde nach ihren Vorlieben und Lebenszielen gefragt, danach, ob sie eher ein Morgen- oder ein Abendmensch sei und wie sie eigentlich zu veganer Küche stehe. „Das war schon verrückt“, sagt sie, während sie die Teebeutel in die Tassen hängt. Manchmal habe sie statt der Einladung zu einem persönlichen Gespräch auch nur einen Fragebogen per Mail geschickt bekommen, in dem sie nach ihrem Beziehungsstand oder ihrer Einstellung zu einer bestimmten Biermarke gefragt wurde.

„Natürlich ist die Situation als Bewerber belastend. Wenn eine Absage kommt, fragt man sich schon, was an einem so daneben ist, dass keiner mit einem wohnen will. Aber jetzt sehe ich auch, dass es nicht anders geht“, sagt Laura. Das Zimmer, das Adrian sich an diesem Tag anschaut, hat sie vor einer Woche ins Internet gestellt – seitdem kann sich ihre WG vor Anfragen kaum retten. Wenn sie unterwegs ist, ruft Laura ihre Mails deshalb schon gar nicht mehr ab. Den Briefumschlag auf dem Display ihres Smartphones, der ihr das Eintreffen neuer Mails signalisiert, ignoriert sie bewusst: „Es reicht, wenn ich mir das einmal am Tag antue.“ Wenn sie abends ihren Posteingang öffnet, trudeln bis zu 90 Mails ein. Anfangs, so erzählt sie, habe sie versucht, jede Anfrage zu beantworten, aber irgendwann habe sie es schlicht nicht mehr geschafft – und die meisten Mails einfach willkürlich gelöscht. Sie zuckt mit den Schultern und trägt die Teetassen ins Zimmer, in dem noch immer die beiden Bewerber sitzen.

„Wir melden uns auf jeden Fall, auch bei einer Absage“, versichert Laura, als sie ihn die Treppe hinunterbegleitet. Das Zimmer war geräumig, hatte sogar eine Schrankwand, die vom Vormieter übernommen werden kann. Adrian würde sofort einziehen, aber er zuckt nur mit den Schultern. In bester Castingshow-Manier weiß er, was er jetzt zu sagen hat: „Ich habe getan, was ich konnte. Jetzt liegt es an euch.“