Wer wenig Geld hat, vielleicht alleinerziehend ist oder drei und mehr Kinder hat, findet oft nur eine Wohnung in Stuttgart, wenn er einen Wohnberechtigungsschein hat. Ein aktuelles Beispiel.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Ein Wohnblock in Möhringen, noch nicht lange saniert und in einem guten Zustand, die unbelaubten Bäume nebenan harren des Frühlings. Julia S. (Name geändert) sitzt auf einer Bank am Esstisch in der spärlich eingerichteten Wohnung. Das große rote Sofa im Esszimmer war zum Verschenken in einer Zeitung annonciert, den Esstisch und die einfache Einrichtung der beiden Kinderzimmer hat sie mit Unterstützung der Stadt anschaffen können. Sie selbst, sagt die 49-Jährige, schlafe auf dem Wohnzimmersofa oder auf einer Matratze neben dem Bett der Tochter. „Hauptsache, die Kinder haben ein Zimmer“, sagt sie. Für sie ist entscheidend, dass sie wieder Ruhe hat. „Jetzt kann ich mein Leben neu organisieren“, erklärt die Mutter. Sie ist dafür sehr dankbar, vor allem dem Sozialamt. „Ohne die Stadt hätte das nicht geklappt.“

 

Der Ehemann wurde immer aggressiver

Julia S. hat eine schwere Zeit hinter sich. Sie entstammt einer westlich orientierten christlichen Familie aus Ägypten. Nach Deutschland kam sie vor 15 Jahren der Liebe wegen, zog zu ihrem Mann, der als Arbeitsmigrant hier lebte. Ihre beiden Kinder wurden geboren, ein heute 13-jähriges Mädchen und ein jetzt 12-jähriger Junge. Mit Hingabe hat sie sich der Erziehung und der Ausbildung der Kinder hingegeben, die beide das Gymnasium besuchen. Nur wurden im Lauf der Zeit die Risse in ihrer Ehe immer deutlicher. Zuletzt spitzten sich die Konflikte zu, ihr Mann wurde immer aggressiver, mehrfach rief sie die Polizei.

Seit längerem plante die 49-Jährige auszuziehen. „Ich habe überall gesucht, habe mir viele Wohnungen angeschaut“, erzählt Julia S. Gefunden hat sie nichts. Zu teuer, zu viele andere Bewerber mit besseren Voraussetzungen. „Die Vermieter haben gedacht: eine Frau, zwei Kinder, ohne Mann – wie will die das bezahlen?“ Vor etwa einem Jahr beantragte die Mutter dann einen Wohnberechtigungsschein, kam in die Vormerkdatei für Wohnungssuchende der Stadt.

841 Haushalte bekamen 2017 eine Sozialwohnung

Ende des vergangenen Jahres ging plötzlich alles ganz schnell. Die Attacken ihres Mannes wurden unerträglich. Julia S. wollte ins Frauenhaus. Doch dort war alles belegt. Da bekam sie von der Stadt eine Interimswohnung zugewiesen. Bald bewarb sie sich bei einer Wohnbaugenossenschaft, zu der auch die Wohnung in Möhringen gehört und für welche die Stadtverwaltung das Belegungsrecht hat. Endlich eine sichere Bleibe für sich und die Kinder. „Ich hatte so ein Glück“, sagt die 49-Jährig.

Julia S. gehört zu den jährlich 800 bis 850 Wohnungssuchenden, die von der Stadt eine Wohnung vermittelt bekommen. 2017 waren es 841, das Jahr davor 832, sagt der Abteilungsleiter Wohnungswesen im Liegenschaftsamt, Alexander Pazerat. Dass diese Zahl in den kommenden Jahren gesteigert werden sollte, ergibt sich aus der bisherigen Entwicklung. Zwar war die Zahl der rund 5950 im Jahr 2017 von der Stadt ausgegebenen Wohnberechtigungsscheine auch schon leicht höher. Die in der Vormerkdatei des Liegenschaftsamtes registrierten wohnungssuchenden Haushalte nahm seit 2011 aber von rund 2850 auf nun 4300 zu. „Die Zahlen in der Vormerkdatei steigen weiter“, sagt Alexander Pazerat. Die darin enthaltenden Not- und Dringlichkeitsfälle, zu denen der von Julia S. zählt, stiegen aber innerhalb eines Jahres sogar von rund 2400 auf jetzt 2750, plus 350.

Einzelpersonen haben es schwer

Die Wartezeiten der Bewerber sind sehr unterschiedlich. Einzelpersonen, die eine Wohnung suchen, machen rund die Hälfte aus. Sie müssen, weil die Gruppe so groß ist, im Durchschnitt 20 Monate auf eine neue Bleibe warten. Bei Zwei-Personen-Haushalten dauert es acht Monate, bei drei Personen elf, bei Vier-Personen-Haushalten und mehr etwa 16 Monate.

Wesentlich für die Länge der Vermittlungszeit ist auch die Lebenslage der Bewerber, die nach einem Punktesystem bewertet wird. So gibt es pro Wartejahr drei Punkte, gute Deutschkenntnisse werden mit fünf Punkten belohnt, mit 40 Punkten aber besonders hoch bewertet werden Not- und Dringlichkeitsfälle, wozu etwa auch ein gesundheitsgefährdendes Wohnumfeld gehört. „Wenn der Bewerber beim Vermieter dann noch einen guten Eindruck macht und er gut ins Gefüge der Wohnanlage passt, kann das auch mal recht schnell gehen“, sagt Alexander Pazerat.

Bestand an Sozialwohnung stark gesunken

Dass die Zahl der Vermittlungen steigt und die Wartezeiten abnehmen, dafür soll auch das „Bündnis für Wohnen“ der Stadt sorgen. Denn in den vergangenen Jahren hat die Zahl der Sozialwohnung stetig abgenommen. Zwar verfügt die Stadt noch immer über rund 19 300 Belegungsrechte (in den 1990er Jahren waren es noch knapp 22 000), stark gesunken sind vor allem die Belegungsrechte mit Mitpreisbindung, die eigentlichen Sozialwohnungen. 2010 waren es 16 300, im Jahr 2016 noch 14 500, jetzt sind es noch etwa 12 400.

Julia S. hat es geschafft. Nach den Strapazen der Vergangenheit sei sie nach dem Einzug in die neue Wohnung zwar „zusammengeklappt“, erzählt sie. Aber jetzt macht sie Zukunftspläne. Die 49-Jährige ist intensiv auf Arbeitssuche. Ihre zwei Minijobs, die zu wenig einbringen, will sie durch eine gute Stelle ersetzen. „Ich will auf eigenen Beinen stehen“, sagt sie. „Früher habe ich nie Hilfe gebraucht.“ Sie hofft: „In zwei, drei Jahren wird meine Lage besser sein.“