Der neue Roman von Wolf Haas erzählt von der Fleischwerdung eines jungen Mannes. Die Wagenhallen hat er damit in eine sehr eigene Form der Adventsstimmung versetzt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Am Anfang war das Wort“, so lautet ein berühmter erster Satz. Und das Wort war bei Wolf Haas, so müsste man ihn fortsetzen, wollte man berichten, was sich am Abend des zweiten Advents in den Stuttgarter Wagenhallen zugetragen hat. Denn dort hat der österreichische Autor, der schon Bücher über den „Brenner und den lieben Gott“ geschrieben hat, nicht einfach eine Lesung zelebriert, sondern eher die wundersame Fleischwerdung der Wörter, aus denen sein neuer Roman besteht. Der zudem passenderweise genau davon handelt: von der Fleischwerdung eines „Jungen Mannes“.

 

Bevor man nun festkalenderbedingt gänzlich auf die falsche Spur gerät, sollte man vielleicht einige Dinge klarstellen: Die Reise führt nicht nach Bethlehem in einen Stall, sondern in die Tankstelle eines kleinen österreichischen Dorfes; der junge Mann ist kein Gottessohn, sondern ein wegen übermäßigen Schokoladenverzehrs in die Königsklasse des Übergewichts aufgestiegener dicker Wuzel, der in seinen Ferien als Tankwart jobbt; und bei der überirdischen Jungfrau, die ihm im freigekratzten Windschutzscheibenfeld ihres Eis-Heiligenscheins erscheint, handelt es sich nicht um Maria, sondern um Elsa, die Frau des größten Stechers der Gegend.

Und doch verwandelt sich diese durch und durch diesseitige Szenerie im vorweihnachtlichen Dämmer der gut gefüllten Wagenhallen in eine verheißungsvolle Periode lauteren Glücks, als lauschte man nicht einfach nur einer eigenwilligen Coming-of-age-Geschichte, sondern erlebe, wie sich das widerspenstige Chaos der Welt ordnet in einen sinnvollen Zusammenhang: die Erlösung des Zufälligen, Dürftigen, Alltäglichen durch den Geist einer zutiefst menschlichen Komik. Humor ist bei Wolf Haas die Probe auf die Sinnfähigkeit der Welt und ihrer adäquaten sprachlichen Abbildung. Und damit wäre man wieder beim Problem des ersten Satzes.

Jetzt ist schon wieder was passiert

Den leise-schüchternen Schlaks, der die Bühne betritt, würde man beim besten Willen nicht mit dem adipösen Ich-Erzähler seines Buches in Verbindung bringen, drängten sich nicht gewisse biografische Parallelen auf. Dass beider Väter zum Beispiel Kellner waren: „Ich verspüre immer noch den Drang auszuhelfen“, sagt Wolf Haas und räumt das obligatorische Requisit jeder Lesung, Flasche und Wasserglas, erst einmal ordentlich zur Seite. Als Zweitgeborener habe er nicht viel Verständnis für den Feuilletonisten-Kult um erste Sätze. Viel lieber wäre es ihm gewesen, seinen Roman so unauffällig zu eröffnen, dass man gar nicht merkt, wenn er beginnt. Und doch: Jetzt ist schon wieder was passiert. So hebt ein klassischer Brenner-Roman an. Und auch wenn der „Junge Mann“ von der Welt des abgehalfterten Wiener Privatdetektivs noch weit entfernt ist, beginnt das Buch, in dem er aus seiner Kindheit und Jugend erzählt, durchaus vergleichbar: „Mit vier Jahren brach ich mir zum ersten Mal das Bein.“

Was auf der Bühne der Wagenhallen nun aber vor allem passiert, ist die Aufführung eines Buches, als handle es sich dabei um eine Art Partitur, die ihre ganze Schönheit und Kraft erst im Vollzug offenbart. Es gibt Autorenbegegnungen, die von Gesprächen leben, lesen kann man schließlich selbst. Mühsam schleppt man sich über die oft recht und schlecht vorgetragenen Kostproben hinweg, die in der Regel nur ein bruchstückhaftes Bild des Ganzen geben. Hier ist es anders. Wolf Haas ist auf sich alleine gestellt – und hat dennoch in Kürze die ganze Belegschaft dieser österreichischen Hinterwelt um sich versammelt: den Chef mit seiner kriegsversehrten, zum Öffnen von Tankdeckeln bestens geeigneten Fingerzange; die verpackungsvirtuose Mutter, die die Kuchenpakete für den im „Irrenhaus“ seinen Alkoholismus auskurierenden Vater so kunstvoll stapelt, wie es sonst allenfalls Bombenleger zu tun pflegen, um eine vorzeitige Detonation zu verhindern; und natürlich den adipösen Ich-Erzähler selbst, der verzweifelt versucht abzunehmen, um Elsa zu gefallen.

Haas liest atemlos, gebannt, vom Sog der Sätze mitgerissen, eine nicht abreißende Kette erfüllter Augenblicke. Nirgends müssen umständliche, erklärende Informationen gegeben werden über den Handlungsverlauf. Alles lebt aus sich, aufgehoben in einem lebensklugen Kosmos aus Korrespondenzen und Assoziationen, der Menschen und Dinge als das zeigt, was sie sind. Höchstens, dass er einmal kurz unterbricht, um eine Begegnung nach einer Lesung in Hamburg einzuflechten: Eine ältere Dame ließ sich ein Buch von ihm signieren, und ging mit den zufriedenen Worte von dannen „Jetzt ist schon wieder was signiert“.

Die Widersprüche des modernen Lebens haben den allwissenden Erzähler aus der Literatur vertrieben. Durch den Hintereingang bringt ihn Haas zurück. Nicht von oben herab, sondern aus der Mitte des Lebens. Aus dem jungen Mann spricht der Weltgeist von nebenan. Und das hat durchaus etwas Adventliches.