Der Journalist und Moderator Wolf Schneider wird am 7. Mai 90 Jahre alt: Der Sprachkritiker legt seine Lebenserinnerungen vor und erlaubt erstmals einen Blick in sein Innerstes.

Stuttgart - Wolf Schneider ist einer der schlimmsten Kotzbrocken des deutschen Journalismus. Das ist vermutlich sogar sein größtes Verdienst.

 

Leser, die finden, dass man einen Jubilar zu seinem neunzigstem Geburtstag nicht unbedingt einen „Kotzbrocken“ nennen sollte, haben grundsätzlich Recht. Bei Wolf Schneider aber, der am 7. Mai neunzig Jahre alt wird, ist das anders. Der Mann ist in seinem Leben niemals einer Auseinandersetzung aus dem Weg gegangen: nicht als Moderator der „NDR-Talkshow“, nicht als Redakteur bei der „Süddeutschen“ und beim „Stern“, nicht als kurzzeitiger Chefredakteur von Springers erzreaktionärer „Welt“ Anfang der siebziger Jahre, nicht als Sprachpapst für Redakteure, Marketingschreiber und Verfasser von Pressemeldungen. Ein halbes Dutzend strenger Stilfibeln hat er verfasst. Sie wurden immer und immer wieder aufgelegt und entfalten ihre Wirkung weit über den Kreis der Journalisten hinaus.

Manche haben Schneider einen „Sprachpapst“ genannt, und wie es sich gehört, weist er den Ehrentitel in eitler Bescheidenheit von sich. „Dass etliche Kollegen mich so getauft haben, freut mich nur mäßig“, schreibt er in seinen gerade erschienenen Lebenserinnerungen. „Nur mäßig“ – mit anderen Worten: Ein bisschen freut es ihn schon. Ein Papst gilt als unfehlbar und spricht seine Urteile ex cathedra. Genau wie Wolf Schneider.

Sechzehn Jahre lang hat der Journalist die Henri-Nannen-Schule geleitet, die wichtigste Ausbildungsstätte des deutschen Journalismus. Er ist dafür verantwortlich, wenn vielen Redakteuren von Zeitungen und Zeitschriften ein Schaudern überkommt, sobald sie auf einen zu komplizierten Satz stoßen, auf einen unpräzisen Ausdruck oder eine verbrauchte Metapher. Man muss sich das so vorstellen: am Freitagabend der ersten Woche kommen in der Nannen-Schule zwanzig Journalistenschüler zusammen. Sie haben ein knallhartes Auswahlverfahren bestanden, sich dabei gegen ein paar Tausend Mitbewerber durchgesetzt. Ihre Schulleiter hält folgende Ansprache:

Er gab sich nie große Mühe, sympathisch zu wirken

„Falls Ihr euch für Genies haltet, sehe ich mich in einer von drei Rollen. Entweder ihr seid Genies, wie Mozart – dann seid ihr immer noch gut bedient, wenn ihr einen Vater habt, der euch erstens in die Feinheiten des Klavierspiels einweist und euch zweitens Disziplin aufzwingt. Oder ihr seid zwar Genies, aber faul wie Paganini. Den zwang sein Vater zum Geigen mit Prügeln und mit Essensentzug, und der Sohn blieb ihm dankbar ein Leben lang. Oder: Ihr seid keine Genies – dann sehe ich mich in der Rolle von Vivaldi: Der hatte es am Ospedale de la Pietà nur mit Waisenmädchen zu tun. Die ließ er geigen, bis Blut kam, und sein Orchester wurde das Staunen der Welt.“

Diese Rede verrät viel über Wolf Schneider selbst. Zum ersten wird klar, dass er sich niemals große Mühe gab, sympathisch zu wirken. Er attestiert sich selbst eine gewisse Neigung zum Herrschen-Wollen. Wie soll sich – zum zweiten – auch jemand zum Kumpeltyp eignen, dessen wichtigstes Credo lautet: Disziplin! Gut lesbare und verständliche Texte entstehen nicht, weil den Autor der Blitzschlag des Genies getroffen hat. Sie sind das Ergebnis harter Arbeit. Niemand, der jemals von Wolf Schneider Unterricht bekommen hat, vergisst sein Motto: „Qualität kommt von Qual“. Jeden Satz soll der Autor so lange bearbeiten, bis er fließt; jedes Wort muss der Schreiber so oft drehen und wenden, bis er sicher ist, dass es passt.

In der Ansprache wird aber auch, drittens, Schneiders profunde Bildung deutlich, sein Interesse für Kultur, für Musik und Literatur vor allem. Er hat sie sich mit der gleichen Disziplin angeeignet, wie er Texte schreibt. Als Jugendlicher beschloss er: ich lese nur noch hochwertige Sachbücher und Weltliteratur – nach einem strengen Plan. Keine Krimis mehr, keine Schmonzetten, keine So-la-la-Bücher. Geschrieben hat er die eigenen, weit mehr als zwei Dutzend Sachbücher mit der gleichen Disziplin. Sieben Tage in der Woche, jeden Tag morgens und nachmittags am Schreibtisch, mit einer dicken Mappe an Notizen, Fundstücken, Quellen.

Sein letztes Buch (auch im wörtlichen Sinne, wie das letzte Kapitel nahelegt) sind seine Memoiren. Ihr erster Teil, der die Jahre von 1945 bis 2013 umfasst, liest sich flüssig und passt ganz ins oben beschriebene Bild, das sich die Öffentlichkeit von dem konservativen Journalisten, Stillehrer und Fernsehmoderator gemacht hat. Im geschickt an die zweite Stelle gesetzten nächsten Teil begegnet der Leser einem Kriegsschicksal, wie es Hunderttausende gab. Der junge Wolf macht in den Jahren der Nazidiktatur sein Abitur, wird erst zum Arbeitsdienst, dann zur Wehrmacht eingezogen. In den Wirren des Krieges versucht er zu überleben. Ein Regimegegner war er nie. Der dritte Teil aber dürfte sein Vermächtnis sein: Berührend, einfühlsam, mit klarem Blick auch für die Unzulänglichkeiten schreibt er über seinen Vater, den er als einen Gescheiterten betrachtet. Er erzählt von seinen Schwestern, denen im Leben das große Glück versagt blieb. Im Schlusskapitel nimmt er unter der Überschrift „Abenddämmerung“ Abschied vom Leben.

Und selbst dann, nach diesen fünf letzten Seiten, dem vermutlich intimsten Einblick in sein Innerstes, den der große Journalist und Journalistenlehrer jemals der Öffentlichkeit gewährt hat, denkt sich der Leser zuvorderst: verdammt gut schreiben kann er ja, dieser Wolf Schneider!