Erst DHB-Präsident Andreas Michelmann, dann Torwart Andreas Wolff: Der coronabedingte Verzicht von vier Nationalspielern auf die WM in Ägypten mündet in ungewohnt deutlich formulierter Kritik – nun stellt sich die Frage, wie sich dieser Zwist entwickelt.

Stuttgart - An Nikolaj Jacobsen schätzen viele Gesprächspartner, dass er in der Regel sagt, was er denkt. Das tat der Trainer des amtierenden Handball-Weltmeisters Dänemark auch, als er nach den Chancen der deutschen Mannschaft für die anstehende WM in Ägypten (13. bis 31. Januar) gefragt wurde. „Nach den ganzen Absagen“, meinte Jacobsen, der 2016 und 2017 den Bundesligisten Rhein-Neckar Löwen zur Meisterschaft führte, „ist das Erreichen des Viertelfinales wohl das Maximum.“ Ob es so kommt? Ist offen. Fest steht, dass im Kader von Bundestrainer Alfred Gislason viele feste Größen fehlen werden. Und das nervt vor allem Andreas Wolff gewaltig.

 

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Auch der deutsche Nationaltorwart ist ein Freund des offenen Wortes, wie aktuell in einem Podcast der Rhein-Neckar Löwen zu hören ist. Dort attackierte Wolff seine ehemaligen Kieler Teamkollegen Hendrik Pekeler, Patrick Wiencek und Steffen Weinhold massiv – das Trio verzichtet wie Finn Lemke (MT Melsungen) Corona-bedingt auf die Weltmeisterschaft. „Ich sehe das sehr, sehr kritisch“, sagte Wolff nun. Er könne verstehen, dass Spieler in der heutigen Zeit um ihre Gesundheit und Ähnliches besorgt seien, „gerade für Familienväter ist es natürlich etwas Schweres, ihre Kinder diesen Monat zurückzulassen und sie nicht zu sehen“. Aber es habe das Trio zuvor auch nicht gestört, mit dem THW Kiel in der Champions League aktiv zu sein und dort in Länder zu reisen, die als Corona-Risikogebiete eingestuft worden seien: „Und jetzt auf einmal ist es bei der WM dann so ein großes Problem, obwohl da die Hygienemaßnahmen, die Sicherheitsmaßnahmen deutlich höher sind als in den internationalen Wettbewerben. Dass sie dieses Jahr die WM fahren lassen, stört mich.“

Kritik auch vom DHB-Boss

Weil zudem Jannik Kohlbacher, Fabian Wiede, Franz Semper, Tim Suton und Sebastian Heymann verletzungsbedingt abgesagt haben, ist der Corona-Verzicht des Quartetts umso schwerer zu verkraften. Unverständnis über die Entscheidung von Pekeler, der sich zu den Vorwürfen nicht äußern wollte, Wiencek und Weinhold äußert Wolff auch deshalb, weil alle Nationalspieler aus anderen Ländern, die beim THW Kiel unter Vertrag stehen, offenbar in Ägypten dabei sein werden – darunter die Topstars Niklas Landin (Dänemark), Sander Sagosen (Norwegen) und Domagoj Duvnjak (Kroatien). „Sie haben anscheinend nicht so ein großes Problem damit, zur WM zu fahren“, meinte der deutsche Torwart des polnischen Starensembles KS Vive Kielce, „ich persönlich finde es halt ein bisschen bedenklich, dass nur die deutschen Spieler sich so um ihre Familien sorgen und die ausländischen Spieler anscheinend sagen: Ach, komm, ich lass Frau und Kinder einfach zurück, die machen das schon.“

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Die Einschätzungen von Wolff sind nicht nur deshalb brisant, weil sich Teamkollegen normalerweise in der Öffentlichkeit nicht gegenseitig kritisieren, sondern weil er sich damit auch hinter Andreas Michelmann einreiht. Der Präsident des Deutschen Handball-Bundes (DHB) hatte sich zuvor verwundert darüber gezeigt, dass fast ausschließlich deutsche Stars wegen der Corona-Pandemie nicht zur WM nach Ägypten reisen werden. „Wir sind wahrscheinlich die sensibelste Handballnation der Welt“, sagte Michelmann in der „Sport-Bild“. „Wenn ich sehe, dass in Kiel die Deutschen nicht fliegen, die Dänen, Kroaten und Slowenen aber sehr wohl, ist es vielleicht auch in den Personen begründet.“ Eine Diskussion darüber sei aber „am Ende müßig, denn die Entscheidungen sind getroffen“. DHB-Boss Michelmann erklärte zwar, die Beweggründe für die Absagen zu verstehen („Ich werde deshalb auch niemand denunzieren“), zugleich lobte er aber die deutschen Profis, die sich für eine Teilnahme entschieden haben: „Es gebührt den Spielern Respekt, die hinfliegen.“

Bundestrainer Gislason bleibt gelassen

Angesichts dieser Aussagen darf man gespannt sein, wie sich der Zwist entwickelt – schließlich haben Pekeler, Wiencek, Weinhold und Lemke nur auf die WM verzichtet, spätestens wenn es um die Teilnahme an den Olympischen Spielen im Sommer in Tokio geht, werden ihre Namen wieder im Notizbuch des Bundestrainers stehen. Weshalb es sicher kein Fehler gewesen wäre, wenn alle dieselbe Gelassenheit gezeigt hätten wie Alfred Gislason. „Ich sehe das pragmatisch“, sagte der Coach des Nationalteams, als er auf die vielen Absagen angesprochen wurde. „Jeder Verlust ist auch ein Chance.“