Seinen letzten Roman, eine Fortsetzung von „Tschick“, konnte Wolfgang Herrndorf nicht mehr selbst vollenden, seine schwere Krankheit hat es verhindert. Nun ist „Bilder deiner großen Liebe“ doch erschienen. Was für ein Glück.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Eigentlich war die Wiederbegegnung erst für das Jahr 2060 geplant. Dann, fünfzig Jahre später, wollten sich die beiden Jungs, Tschick und Maik, mit diesem merkwürdigen Mädchen noch einmal treffen, das sie auf einer Müllkippe aufgetrieben haben. Isa, so ihr Name, stinkt ein wenig, singt wunderschön und weiß, wie man mit einem Schlauch Benzin abzapfen kann. Woher sie kam, haben sie nicht rausgekriegt, wohin sie wollte, auch nicht. Maik hat ihr die Haare geschnitten, sie ihm den Kopf verdreht. Und das Ganze ist eine dieser Szenen, voll des sanften Sehnsuchtszaubers, mit denen Wolfgang Herrndorfs Erfolgsroman „Tschick“ den Weg zurück in die Glücksprovinzen eines jugendlichen Aufbruchs bahnt.

 

Seit die beiden Freunde Tschick und Maik in einem gestohlenen Lada der Tristesse ihres normalen Lebens in einer bewegenden Abenteuerfahrt durch die Provinz entkommen sind, träumt die junge deutsche Literatur vom „Tschick“-Effekt. Sie wirft sich in jugendliche Posen, müht sich mit Gewalt um den verlorenen Unschuldsblick und gleicht darin nur den stolzen Schwestern im Märchen, die ebenso profitlich wie vergeblich jene Gunst zu erschleichen trachten, die nur stille Lauterkeit der Ärmsten unter ihnen gewährt.

Niemals Germanisten ranlassen, Journalisten vertreiben

Jetzt ist Isa wieder da in Herrndorfs nachgelassenem Roman „Bilder deiner großen Liebe“. Aber was ist seitdem geschehen? Man kann es nachlesen in dem Blog „Arbeit und Struktur“. Herrndorf hat darin sein Leben nach der Diagnose einer schweren Krebserkrankung dokumentiert und sich verordnet, was der Titel benennt, um in den gezählten Tagen, die ihm die Krankheit noch ließ, nicht zu verzweifeln. Zu der Arbeit, die ihm Struktur während dieser Zeit gab, zählte auch die Fortsetzung des „Tschick“-Romans aus der Perspektive Isas. Doch den anfänglich raschen Fortschritten des Textes stand das Fortschreiten der Krankheit entgegen. Der Roman würde Fragment bleiben und damit dem verfallen, was Herrndorf in seinem Testament bestimmt hatte: „Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. (. . .) Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben.“

Dass er nun doch vorliegt, ist das Ergebnis eines allerletzten Sinneswandels – und der editorischen Arbeit der Freunde und Herausgeber Marcus Gärtner und Kathrin Passig. Sie haben das vorliegende Material geordnet und zusammengefügt. „Bilder deiner großen Liebe“ bleibt ein unvollendeter Roman – seinen Rang schmälert das nicht. Er verhält sich zu dem lichten Bubenstück, das er fortsetzt, wie ein dunkel-umflortes Nocturne. Erst in dieser Beleuchtung werden der heilige Ernst und die leise Trauer wieder vernehmbar, die der „Tschick“-Erfolgsfuror häufig übertönt.